Gedichte

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Noch will das alte unsere Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwerer Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.


Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.


Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.


Lass warm und hell die Kerze heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.


Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

EKG für Bayern, Nr. 65 und 637


Zu Beginn des Jahres 1945 schrieb Dietrich Bonhoeffer dieses Gedicht für seine Mutter und seine Braut. Wer es liest und hört, ahnt wohl den Ort der Entstehung. Seit Oktober 1944 saß Bonhoeffer im Kellergefängnis der Geheimen Staatspolizei in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Seit eineinhalb Jahren war er zu dieser Zeit schon gefangen – und jetzt konnteman ihm nachweisen, dass er am Widerstand gegen Hitler beteiligt war. „Böser Tage schwere Last“ nennt er, was ihn bedrückt: Berlin war durch Bomben zerstört, jeder Widerstand gegen die verbrecherische Regierung war erloschen. Doppelte Vernichtung raste durchs Land: die äußeren Feinde zerstörten mit ihrer Übermacht, was da war an Widerstand, und im Innern tobte die brutale Vernichtung derer, die zu retten versuchten, was noch zu retten war. Die Kirche hatte versagt, war mitschuldig geworden, weil sie die Kraft ihres Glaubens nicht eingesetzt hatte im Kampf um die Gerechtigkeit und im Einsatz für die Verfolgten.
„Aufgescheuchte Seelen“, „schwerer Kelch des bittren Leids“ - hinter diesen Worten zittert persönliches Erleben: Furchtbare Bombennächte in der Zelle, grausame Verhöre, Trennung von allen Freunden, von der Familie, von der Braut und die immerwährende Bemühung, in dem allen den Willen Gottes zu erkennen.
Aben nun eben auch in dem allen die Kraft, zu beten - dieses Gedicht ist ein Gebet – und andere zu trösten: Kraft eines Glaubens, der sich nicht in der hintersten Ecke vor allem politischen Geschehen versteckt, sondern der Gott Rettung und Änderung zutraut; Kraft eines Glaubens, der in dieser Welt Verantwortung übernimmt, d.h. dem Wort Gottes die Antwort nicht schuldig bleibt; Kraft eines Glaubens, der uns an das Leiden Jesu erinnert, das ihm widerfuhr, weil er sich einmischte in die Lieblosigkeit dieser Welt mit seiner Liebe.

Diese Glaube befähigt ihn zur Hoffnung, zum Lobgesang und gibt ihm das Gefühl, „wunderbar geborgen“zu sein. So wird dieses Gedicht zur Hilfe, zur Ermutigung für alle, die in schwerer Zeit und in bedrückender Erfahrung nach Hilfe zum Durchhalten Ausschau halten.


Auf dem Gipfel des Gebirges (Der Tod des Mose)

Auf dem Gipfel des Gebirges
steht Mose, der Mann Gottes und Prophet.
Seine Augen schauen unverwandt
in das heilige gelobte Land.
„So erfüllst DU, Herr, was DU versprochen,
niemals hast DU mir Dein Wort gebrochen.
Deine Gnade rettet und erlöst,
und Dein Zürnen züchtigt und verstößt.
Treuer Herr, dein ungetreuer Knecht,
weiß es wohl: DU bist allzeit gerecht.
So vollstrecke heute Deine Strafe,
nimm' mich hin zum langen Todesschlafe.
Von des heiligen Landes voller Traube
trinkt allein der unversehrte Glaube.
Reich dem Zweifler drum den bittern Trank,
und der Glaube sagt Dir Lob und Dank.
Wunderbar hast DU an mir gehandelt,
Bitterkeit in Süße mir verwandelt,
lässt mich durch den Todesschleier sehn,
dies mein Volk zu höchster Feier gehn.
Sinkend, Gott, in Deine Ewigkeiten,
seh' mein Volk ich in die Freiheit schreiten.
Der die Sünde straft und gern vergibt,
Gott, ich habe dieses Volk geliebt.
Dass ich seine Schmach und Lasten trug
und sein Heil geschaut – das ist genug.
Halte, fasse mich! Mir sinkt der Stab,
treuer Gott, bereite mir mein Grab.“

Gesammelte Schriften IV

Im September 1944 schrieb Dietrich Bonhoeffer dieses Gedicht. Viele dieser Zeilen, die er Mose in den Mund legt, gelten auch für ihn. Der Widerstand gegen Hitler war zusammengebrochen, menschliche Hoffnung für „dieses Volk“ war nun dahin, Bonhoeffer muss für sich selbst mit einem baldigen Ende rechnen – und darum blickt er jetzt zurück wie Mose und sieht rettende Gnade und strafenden Zorn Gottes am Werk. Und er blickt nach vorne, in die Zukunft wie in ein verheißendes Land, und sieht dies Volk „in die Freiheit schreiten“.Diese Vision drückt eine Hoffnung für die Kirche aus – dass sie durch Gottes Vergebung frei wird von der Schuld ihres Versagens, dass sie nicht mutiger bekannt, geliebt und widerstanden hat – diese Hoffnung gilt auch für das deutsche Volk, dass es frei wird von dieser Unrechtsregierung, die Gottes Gebote mit Füßen getreten hat, und diese Hoffnung gilt auch für ihn persönlich, und wenn er nur auf dem Weg ist, den er in einem andern Gedicht dieser Tage beschreibt: „Komm nun, höchstes Fest auf dem ewigen Wege zur Freiheit, Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern!“ Der Christ kann – wie Mose hier – den Tod als Freiheitsfeier sehen... „lässt mich durch den Todesschleier sehn, dies mein Volk zu höchster Freiheit gehn.“
Welch eine Glaubenskraft, die einen Gefangenen in seiner Zelle neben den sterbenden Mose rückt: „Halte, fasse mich! Mir sinkt der Stab, treuer Gott, bereite mir mein Grab.“ Wir wissen heute, dass dieses Sterben besser war als manches Überleben.


Nächtliche Stimmen in Tegel (Juni 1944)

Langgestreckt auf meiner Pritsche starre ich auf die graue Wand.
Draußen geht ein Sommerabend, der mich nicht kennt, singend ins Land.
Leise verebben die Fluten des Tages an ewigem Strand.
Schlafe ein wenig! Stärk' Leib und Seele, Kopf und Hand!
Draußen stehen Völker, Häuser, Geister und Herzen in Brand.
Bis nach blutroter Nacht dein Tag anbricht – halte stand!

Nacht und Stille. Ich horche. Nur Schritte und Rufe der Wachen,
eines Liebespaares fernes, verstecktes Lachen.
Hörst du sonst nichts, fauler Schläfer?
Ich höre der eigenen Seele Zittern und Schwanken.
Sonst nichts?
Ich höre, wie Stimmen, wie Rufe, wie Schreie nach rettenden Planken,
der wachenden, träumenden Leidensgefährten nächtlich stumme Gedanken.
Ich höre unruhiges Knarren der Betten,
ich höre Ketten.

Ich höre, wie Männer sich schlaflos werfen und dehnen,
die sich nach Freiheit und zornigen Taten sehnen.
Wenn der Schlaf sie heimsucht im Morgengrauen,
murmeln sie träumend von Kindern und Frauen.

Ich höre glückliches Lispeln halbwüchsiger Knaben,
die sich an ihren kindlichen Träumen laben.
Ich höre sie zerren an ihren Decken
und sich vor grässlichem Albtraum verstecken.

Ich höre Seufzen und schwaches Atmen der Greise,
die sich im Stillen bereiten zur großen Reise.
Sie sahen Recht und Unrecht kommen und gehen,
nun wollen sie Unvergängliches, Ewiges sehn.

Nacht und Stille, nur Schritte und Rufe der Wachen.
Hörst du's im schweigenden Hause beben, bersten und krachen,
wenn Hunderte die geschürte Glut ihrer Herzen entfachen?
Stumm ist ihr Chor,
weit geöffnet mein Ohr:
„Wir Alten, wir Jungen,
wir Söhne aller Zungen,
wir Starken, wir Schwachen,
wir Schläfer, wir Wachen,
wir Armen, wir Reichen,
im Unglück Gleichen,
wir Guten, wir Bösen,
was je wir gewesen,
wir Männer vieler Narben,
wir Zeugen derer, die starben,
wir Trotzigen und wir Verzagten,
wir Unschuldigen und wir schwer Verklagten,
von langem Alleinsein tief Geplagten,
Bruder, wir suchen, wir rufen dich!
Bruder, hörst du mich?“

Zwölf kalte, dünne Schläge der Turmuhr wecken mich.
Kein Klang, keine Wärme in Ihnen bergen und decken mich.
Bellende Hund um Mitternacht schrecken mich.
Armseliges Geläute
trennt ein armes Gestern vom armen Heute.
Ob ein Tag sich zum andern wende,
der nichts Neues, nichts Besseres fände,
als dass er in Murzem wie dieser ende,-
Was kann mir's bedeuten?

Ich will die Wende der Zeiten sehen,
wenn leuchtende Zeichen am Nachthimmel stehen,
neue Glocken über Völker gehen
und läuten und läuten.
Ich warte auf jene Mitternacht,
in deren schrecklich strahlender Pracht
die Bösen vor Angst vergehen,
die Guten in Freude bestehen.

Bösewicht, tritt ins Licht, vor Gericht.

Trug und Verrat, arge Tat, Sühne naht.

Mensch, o merke, heilige Stärke ist richtend am Werke.

Jauchzt und sprecht: Treue und Recht einem neuen Geschlecht!

Himmel versöhne zu Frieden und Schöne die Erdensöhne.

Erde, gedeih', Mensch werde frei, sei frei!

Ich habe mich plötzlich aufgerichtet,
als hätt' ich vom sinkenden Schiffe Festland gesichtet,
als gäbe es etwas zu fassen, zu geifen,
als sähe ich goldene Früchte reifen.
Aber wohin ich auch blicke, greife und fasse,
ist nur der Finsternis undurchdringliche Masse.

Ich versinke in Grübeln.
Ich versenke mich in der Finsternis Grund.
Du Nacht voll Frevel und Übeln,
tu dich mir kund!

Warum und wie lange zehrst du an unsrer Geduld?
Tiefes und langes Schweigen;
dann hör ich die Nacht zu mir sich neigen:
Ich bin nicht finster, finster ist nur die Schuld!

Die Schuld! Ich höre ein Zittern und Beben,
ein Murmeln ein Klagen sich erheben,
ich höre Männer im Geiste ergrimmen,
in wildem Gewirr unzähliger Stimmen,
ein stummer Chor dringt zu Gottes Ohr:

Von Menschen gehetzt und gejagt,
wehrlosgemacht und verklagt,
unerträglicher Lasten Träger,
sind wir doch die Verkläger.

Wir verklagen, die uns in Sünde stießen,
die uns mitschuldig werden ließen,
die uns zu Zeugen des Unrechts machten,-
um den Mitschuldigen zu verachten.

Unser Auge musste Frevel erblicken,
um uns in tiefe Schuld zu verstricken;
dann verschlossen sie uns den Mund,
wir wurden zum stummen Hund.
Wir lernten es, billig zu lügen,
Dem offenen Unrecht uns zu fügen.
Geschah dem Wehrlosen Gewalt
so blieb unser Auge kalt.

Und was uns im Herzen gebrannt,
blieb verschwiegen und ungenannt.
Wir dämpften das hitzige Blut
und zertraten die innere Glut.
Was Menschen einst heilig gebunden
das wurde zerfetzt und geschunden,
verraten Freundschaft und Treue,
verlacht waren Tränen und Reue.

Wir Söhne frommer Geschlechter,
einst des Rechts und der Wahrheit Verfechter,
wurden Gottes- und Menschenverächter
unter der Hölle Gelächter.
Doch wenn uns jetzt Freiheit und Ehre geraubt,
vor Menschen erheben wir stolz unser Haupt.
Und bringt man uns in böses Geschrei,
vor Menschen sprechen wir selbst uns frei!

Ruhig und fest stehn wir Mann gegen Mann,
als die Verklagten klagen wir an.
Nur vor Dir, alles Wesens Ergründer,
vor dir sind wir Sünder.

Leidensscheu und arm an Taten
heben wir Dich vor den Menschen verraten.
Wir sahen die Lüge ihr Haupt erheben
und haben der Wahrheit nicht Ehre gegeben.
Brüder sahn wir in größter Not
und fürchteten nur den eigenen Tod.
Wir treten vor Dich als Männer,
als unsrer Sünde Bekenner.
Herr nach dieser Zeiten Gärung,
schenk uns Zeiten der Bewährung!
Lass nach soviel Irregehn
uns des Tages Anbruch sehn!

Lass, so weit die Augen schauen,
Deinem Wort uns Wege bauen.
Bis du auslöschst unsere Schuld,
halt uns stille in Geduld.

Stille wolln wir uns bereiten,
bis du uns rufst zu neuen Zeiten,
bis du stillest Sturm und Flut
und Dein Wille Wunder tut.

Bruder, bis die Nacht entwich,
bete für mich!“

Erstes Morgenlicht schleicht durch mein Fenster bleich und grau,
leichter Wind fährt mir über die Stirn sommerlich lau.
„Sommertag!“ sage ich nur
„schöner Sommertag!“
Was er mir bringen mag?

Da hör ich draußen hastig verhaltene Schritte gehn.
In meiner Nähe bleiben sie plötzlich stehn.
Mir wird kalt und heiß,
ich weiß, o ich weiß!
Eine leise Stimme verliest etwas schneidend und kalt.
Fasse dich, Bruder, bald hast du's vollbracht, bald, bald!

Mutig und stolzen Schrittes hör ich dich schreiten.
Nicht mehr den Augenblick siehst du, siehst künftige Zeiten.
Ich gehe mit dir, Bruder, an jenen Ort,
und ich höre dein letztes Wort:
„Bruder, wenn mir die Sonne verblich,
lebe du für mich!“

Langgestreckt auf meiner Pritsche starre ich auf die graue Wand.
Draußen geht ein Sommermorgen, der noch nicht mein ist, jauchzend ins Land.

Brüder, bis nach langer Nacht unser Tag anbricht,
halten wir stand!

Widerstand und Ergebung

Seit April 1943 saß Bonoeffer als Untersuchungsgefangener im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Tegel. Dort gehen ihm diese nächtlichen Stimmen durch der Kopf. Uns gehen sie durchs Herz. Das Flüstern und der Aufschrei, mitleidend oder tröstend,das Schuldbekenntnis vor Gott und die mutige, kühne Selbstrechtfertigung vor Meenschen: Es ist ergreifend und bedrückend, und es klagt uns auch Jahre später noch an, weil es wieder und immer noch stimmt:
Leidensscheu und arm an Taten
heben wir Dich vor den Menschen verraten.
Wir sahen die Lüge ihr Haupt erheben
und haben der Wahrheit nicht Ehre gegeben.
Brüder sahn wir in größter Not
und fürchteten nur den eigenen Tod.
Gehört das zur Sache, dass die tiefsten Erkenntnisse erst unter der Last der Leidens „erpresst“ werden, die Paulusbriefe aus dem Gefängnis und dieses Bonhoeffergedicht in durchaus vergleichbarer Weise!?

In einem Brief vom 3.8.1944 erwähnt Bonhoeffer dieses Gedicht zusammen mit einem Entwurf einer Arbeit über die Kirche. Dort heißt es: „Die Kirche muss ausGesammelte Schriften IV. S.613ff Ihrer Stagnation heraus. Wir müssen auch wieder in die freie Luft der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Wir müssen es riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“(Widerstand und Ergebung)

Es wäre gut, wenn uns dieses Gedicht dazu ermutigen könnte. Mitleid wollte Bonhoeffer jedenfalls nicht – und als Denkmal verehrt werden will er auch nicht. Aber er will als Zeuge ernstgenommen werden, heute, wo die „Zeiten der Bewährung“ da sind.