KRITISCHES FORUM KALACHAKRA

Kritisches Forum zur Hinterfragung des Kalachakra-Rituals

 

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Edwin Marshall Bernbaum

Der Weg nach Shambhala – Auf der Suche nach dem sagenhaften Königreich im Himalaya

Hamburg 1982

 

Das Buch des Tibetologen E. Bernbaum ist der populärste westliche Text zum Shambhala-Mythos. Es wurde in einer anschaulichen, unakademischen aber dennoch fundierten Art verfasst und kommt auch häufig auf die Problemfelder zu sprechen, ohne diese jedoch als solche wahrzunehmen. Das erste Kapitel schildert verschiedene Varianten des Mythos vom "Königreich hinter den Gebirgsketten", in dem Frieden und Harmonie herrschen sollen. Seitenlang werden Theorien über Lokalität des Mythenreiches vorgestellt. Schließlich erfahren wir, dass Shambhala sich sowohl in uns, als auch außerhalb von uns befinde. Shambhala ist nicht nur ein Ort, sondern auch ein geistiger Zustand. Erst wenn wir das "innere" Shambhala entdeckt hätten, könnten wir das "äußere" Shambhala finden. (44 f.) Shambhala ist eine Buddhokratie mit einem absoluten Monarchen an der Spitze des Staates, der die weltliche und geistige Macht in Personalunion vereinigt. Nach Bernbaum entspricht die hierarchische Rangordnung Shambhala Staates den unterschiedlichen Graden in der Einweihung des Kalachakra-Tantra. (53)  Die Teilnahme an einem Kalachakra-Ritual garantiert die Wiedergeburt im Königreich Shambhala (33)

 

Das Ehrliche an Bernbaums Studie ist, dass sie die gewaltigen und aggressiven Aspekte des prophezeiten Shambhala Krieges nicht verschweigt: Das Kriegsszenario beginnt mit einen "Schlachtenlied" des dritten Panchen Lama, in dem es heißt: "Deine Fürsten werden die anderen Fürsten vernichten. – Wenn all dies geschehen ist, wird das Geschlecht – der Barbaren für immer ausgerottet sein." (30) Mit der Initiation in das Kalachakra-Tantra ist sichergestellt, dass der Eingeweihte während der letzten Schlacht gegen die Mächte der Finsternis wiedergeboren wird. (52/53) Die hohen Lamas von heute nehmen dann Offiziers- bzw. Generalsposten ein. (35) Gegner des Shambhala-Heeres sind die drei monotheistischen Religionen, insbesondere jedoch der Islam. Verbündete dagegen die indischen Götter. (89) Bernbaum verweist auch auf die politische Benutzung des Shambhala-Mythos bei den Mongolen zu sprechen. (25)

 

Bernbaum spricht zwar in einem Abschnitt sehr allgemein über die Riten des Kalachakra-Tantra (111 ff.) aber viel Konkretes erfahren wir nicht darüber, denn die Mysterien dieses Tantras sind geheim. Wer sie ausplaudert, wird in buddhistische Höllen verbannt. "Es gibt nur wenige Lamas, die von allen diesen Gottheiten [des Kalachakra-Tantra] wissen, und noch wenigere verstehen ihre Bedeutung. [....] Die Tibetologen betrachten das Kalachakra im Allgemeinen als das schwierigste alle tibetischen Systeme, besonders aufgrund seiner komplizierten Rituale und seines vielschichtigen Symbolismus. Damit wird es wahrscheinlich die unbekannteste und unzugänglichste aller tantrischen Lehren bleiben." (129) Die Zehntausenden, die an den öffentlichen Kalachakra-Einweihungen teilnehmen, haben also gar keine Ahnung davon, worum es hierbei geht. Es ist aber weniger die Komplexität des Tantras, die dem Geheimnisgebot zugrunde liegt, sondern es sind dessen inhumane Inhalte.

 

Textauszug S. 243 bis 255

 

Das Kalachakra erwähnt auch noch eine andere Überlieferungslinie von Lehrern. Sie sollen die barbarischen Lehren des Materialismus hervorgebracht und in der Welt verbreitet haben. Unter ihnen können wir leicht die Namen von Abraham, Moses, Jesus und Mani — dem Begründer der gnostischen Religion des Manichäismus — identifizieren. Das Hauptgewicht — und das Hauptentsetzen — der Kalachakra-Schriften konzentriert sich jedoch auf Mohammed oder “Madhumati”. Sie beschreiben den Aufstieg des Islam im “Lande Makha” — Mekka, der im siebenten Jahrhundert während der Herrschaft des zehnten Kulika-Königs von Shambhala stattfand. Die Schriften sagen ferner aus, dass die Lehren der Barbaren ein Land nach dem anderen überschwemmen und der Ausübung des Buddhismus außerhalb der Grenzen Shamhhalas ein Ende bereiten werden.

 

Obwohl einige Gelehrte nur die Moslems identifiziert haben, können wir der oben erwähnten Liste der Lehrer der Barbaren ersehen, dass auch die Anhänger anderer Religionen, wie Juden, Christen und Manichäer, zu dieser Kategorie zählen. Die Schriften bezeichnen jede fremde Lehre, die den Buddhismus bedroht, als mleccha oder ,,barbarisch”. Zu der Zeit, als das Kalachakra im zehnten Jahrhundert in Indien erschien, ging die größte Bedrohung jedoch vom Islam aus, denn der Islam hatte den Buddhismus fast völlig aus Zentralasien verdrängt und war dabei, auch in Indien Fuß zu fassen. Aus diesem Grunde scheint der Islam zu einem Symbol für alle jene Lehren geworden zu sein, die wahre Spiritualität — oder besser gesagt, was der Buddhismus darunter versteht — unmöglich machen. Mleccha, der Begriff, mit dem die Schriften auf die “Barbaren” verweisen, bezieht sich auf jede Art von Materialismus, ganz gleich welcher ideologischen oder religiösen Prägung. Chopgye Triechen Rinpoche sagte zu mir: ,,Es gibt viele Arten von Barbaren. Allen fehlen die spirituellen Werte. Sie sind Materialisten, und es ist ihnen gleichgültig, ob sie Millionen von Menschen töten, wenn sie damit nur sich selbst oder ihrem Land oder ihrer Lehre Ruhm und Macht verschaffen.”

 

Als der Islam während der Herrschaft des zwölften Kulika-Königs in Zentralasien einbrach, gelangte das Kalachakra aus Shambhala nach Indien und kurz darauf von dort nach Tibet. In Tibet fand es einen Zufluchtsort, der ihm fast ein ganzes Jahrtausend erhalten blieb. In einem vorangegangenen Kapitel haben wir bereits die Geschichten der gelehrten indischen Yogis untersucht, die nach den Lehren forschten und sie im zehnten Jahrhundert in ihre Heimat zurückbrachten. Unabhängig von der Frage, ob Shambhala tatsächlich der Ursprungsort dieses Systems ist, blühten die Lehren des Kalachakra bald darauf in Kaschmir und in Bengalen. Von dort aus führten es die buddhistischen Lehrer in Tibet ein und begründeten eine Reihe von Überlieferungslinien,  die diese Tradition über die Jahrhunderte  erhielten. Später verbreitete  sich das Kalachakra mit dem tibetischen Buddhismus bis in die Mongolei und Südsibirien, wo das geheimnisvolle nördliche Königreich von Shambhala auf großen Widerhall stieß.

 

Während all dieser Zeiten haben die Könige von Shambhala — unberührt von den Ereignissen in der übrigen Welt — ihre Untertanen in das Kalachakra eingeführt. Nach den Ausführungen der meisten Quellen hat Aniruddha, der einundzwanzigste Kulika-König, im Jahre 1927 die Herrschaft angetreten und wird bis zum Jahr 2027 regieren. In Übereinstimmung mit der Prophezeiung ist die Tradition des Kalachakra während seiner Herrschaft in Tibet, in der Mongolei, in China und im übrigen Asien fast zum Erlöschen gekommen. Diese Entwicklung wird sich während der Regierungszeit der drei noch ausstehenden Kulika-Könige weiter fortsetzen, bis der fünfundzwanzigste, der ,,Rasende mit dem Rad” im Jahre 2337 den Thron besteigen und die ausgelassenen Barbaren besiegt. Einige Lamas nehmen jedoch an, dass dies in wesentlich näherer Zukunft geschehen wird. Vielleicht sogar plötzlicher, als wir uns erträumen würden. Sie begründen dies damit, dass nicht alle Könige von Shambhala einhundert Jahre lang geherrscht haben sollen. Chögyum Trungpa Rinpoche bringt dies mit dem vorzeitigen Ableben einiger Dalai Lamas in Zusammenhang. Wie dem auch sei, da das Todesdatum des Buddha, der Ausgangspunkt für die Berechnung des Eintretens des Goldenen Zeitalters, den tibetischen Quellen zufolge stark variiert — von 2422 bis 546 v. Chr. — stehen für den Beginn des Goldenen Zeitalters einschließlich der unmittelbaren Gegenwart eine ganze Reihe von Daten zur Auswahl.

 

Bevor die letzte Schlacht stattfindet, werden sich die Zustände jedoch noch wesentlich verschlechtern. Der Prophezeiung zufolge werden Trockenheit, Hungersnot, Krankheit und Krieg die Welt überschwemmen. Die Menschen werden keine Religiosität mehr besitzen, die ihnen Trost spenden kann oder Befreiung verheißt. Ihr Geist steht ganz und gar unter dem Bann der materialistischen Weltanschauungen, und so werden sie erbarmungslos dazu angetrieben, nur ihren selbstsüchtigen Beweggründen zu folgen. Die Gier nach Macht und Reichtum gewinnt über die Lehren von Wahrheit und Mitgefühl die Oberhand. Die Nationen werden einander bekämpfen, und die Mächtigen werden die Machtlosen einfach schlucken. Die siegreichen Barbaren werden alle Macht an sich reißen und untereinander um die Vorherrschaft ringen. Nach verschiedenen Versionen der Prophezeiung werden zwei mächtige Gruppen, die die Erde gewissermaßen unter sich aufgeteilt haben, schließlich gegeneinander  antreten; die Tibeter verstehen dies als die Voraussage des Dritten Weltkriegs. Am Ende dieses gewaltsamen Konflikts wird ein ruchloser König als Sieger und Herr über die Welt erscheinen. Da er von der Existenz Shambhalas nichts gehört hat, wird er glauben, es gäbe keinen Mächtigeren als ihn.

 

Zu dieser Zeit wird Rudra Chakrin, der fünfundzwanzigste Kulika-König, jedoch schon den Thron bestiegen und eine Reihe von Jahren in Shambhala geherrscht haben. Einem tibetischen Kommentar zufolge wird ein Eisenrad aus dem Himmel fallen und den Beginn seiner Herrschaft verkünden. Daraus ist auch sein Name abgeleitet — “der Rasende mit dem Rad”. Das Rad ist in der buddhistischen Mythologie ein Zeichen für einen Weltenherrscher und symbolisiert seine weltliche und spirituelle Macht. In einigen Versionen der Prophezeiung gebraucht Rudra Chakrin dieses Eisenrad als Wurfscheibe und mäht damit seine Feinde nieder. Doch symbolisiert das Rad auch seine Befähigung, die buddhistische Lehre zu verbreiten. Nachdem der Buddha in Sarnath bei Benares seine erste Lehrrede gehalten hatte, bemerkte er dazu selbst, “er habe das Rad der Lehre in Bewegung gesetzt”. Die meisten Quellen stimmen darin überein, dass Rudra Chakrin eine Manifestation Manjushris, des Bodhisattvas der Weisheit sein wird.

 

Die verschiedenen Schriften enthalten voneinander abweichende Erklärungen zu der Begebenheit, durch die der König der Barbaren — der bezeichnenderweise ,”kindischer Intellekt” oder “die Intelligenz des Machens” heißt — von der Existenz Rudra Chakrins und seines verborgenen Königreichs erfahren wird. Die meisten Quellen stimmen jedoch darin überein, dass dies erst dann geschehen wird, wenn der König der Barbaren die ganze Welt erobert hat und annimmt, dass kein Rivale ihm mehr seine Stellung streitig machen kann. Einer Geschichte Klienpo Tsondüs zufolge wird dann die Retterin Tara in der Gestalt einer Frau vor dem arroganten Monarchen erscheinen und ihm Shambhala im Qualm von brennenden Weihrauchstäbchen in einer Vision sichtbar werden. Beim Anblick der Pracht von Rudra Chakrins Palast wird der Barbarenkönig vor Wut schäumen. Er kann die Einsicht nicht ertragen, dass auf der Welt etwas von vergleichbarer Macht und Größe existiert. Beißender Neid wird ihn dazu veranlassen, seine Armee in Richtung Shambhala in Marsch zu setzen.

 

Nach einer ähnlichen Fassung der Prophezeiung wird Palden Lhamo, eine rasende Schutzgottheit der buddhistischen Lehren, als Gemahlin des Barbarenkönigs wiedergeboren. Wenn der Tyrann die ganze Welt erobert haben wird, gerät er durch seinen nicht mehr zu meisternden Stolz in einen Zustand der Raserei, dessen Intensität der Wut eines rasenden Elefanten gleicht.  Die Minister, die von dem gleichen Dünkel und der gleichen Anmaßung befallen werden wie ihr König, werden überall lautstark verkünden, dass es keinen Mächtigeren gibt als ihren Monarchen. Daraufhin wird ihnen jedoch die Königin antworten: ,,Ihr stolzen und kindischen Minister. Ich habe etwas auf dieser Welt gesehen, was die Größe unseres Königs bei weitem überragt. Wenn ihr es nicht zu erobern vermögt, ist euer Stolz nicht mehr wert als kindisches Gehabe!”

 

Daraufhin werden die Minister anordnen, dass die Erde durch eine peinliche Luftaufklärung abgesucht wird. Wenn diese Aufklärung die Existenz Shambhalas mit all seinem unvergleichlichen Reichtum und Glück offenbart, wird der Neid der Barbaren alles Vorstellbare überschreiten:  sie werden sich in ihrer Wut aufbäumen wie die Wogen eines tosenden Meeres. Erzürnt darüber, dass es ein derartiges Land gibt, das sich zudem ihrer Kontrolle bislang entziehen konnte, werden sie ein Heer aufstellen, um Shambhala zu erobern.

 

Die Schriften sind darüber uneins, ob die Barbaren tatsächlich bis nach Shambhala selbst vorstoßen können oder nicht. Viele Lamas vertreten die Ansicht, dass es ihnen an der spirituellen Kraft fehlt, die Hindernisse zu überwinden,  die das verborgene Königreich vor allen Eindringlingen schützen. Der Reiseführer des Dritten Pänchen Lama unterstützt diese Meinung. Dieser Reiseführer sagt, dass Rudra Chakrin hervortreten und die Barbaren in einer letzten Schlacht südlich des Sita im Lande Rum — vermutlich im Gebiet des heutigen Iran oder der heutigen Türkei — vernichtend besiegen wird, sobald ihre Gegenwart für die Welt nicht mehr zu ertragen ist. Khamtul Rinpoches Traum zufolge wird diese Konfrontation an den Ufern des Sita selbst stattfinden. Der Haupttext des Kalachakra Tantra enthält sich einer genauen Ortsangabe, doch geht auch aus ihm hervor, dass Rudra Chakrin und sein Heer die Barbaren außerhalb der Grenzen des eigentlichen Shambhala schlagen werden.

 

Doch gibt es auch Lamas, die die gegenteilige Ansicht vertreten. Nach ihrer Meinung gelangen die Barbaren aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden technologischen Mittel bis nach Shambhala selbst. Khenpo Lodrö Sangpo meint zum Beispiel, dass sie die Schneegebirge mit ihren Flugzeugen überfliegen und den Luftkrieg über Shambhala eröffnen werden. Einige dieser Flugzeuge werden in den Fluss stürzen, der am Palast im Herzen Shambhalas entlang fließt, so dass sich das Wasser mit Menschenblut rot färbt. Durch diesen Anblick von tiefer Wut erfaßt, wird Rudra Chakrin den Eindringlingen, die  sein Königtum entweihen,  entgegenstürmen und sie vernichten.

 

Dardo Rinpoche hörte von seinem Lehrer in Tibet eine weitere Variante der Prophezeiung: Nachdem die Barbaren unter eine Herrschaft vereint worden sind, wird ihnen ein von ihnen verehrter böser Geist eröffnen, dass sie nicht die Mächtigsten der Erde sind, sondern dass es auch noch das Reich Shambhala gibt. Wenn sie das verborgene Königreich dann entdeckt haben, werden sie Straßen über die Schneeberge bauen, die Shambhala vor der Außenwelt schützen. Der Schnee wird schon zum großen Teil geschmolzen sein, was ihre Aufgabe sehr erleichtert. Der König von Shambhala wird über ihre Invasion nicht sehr bekümmert sein, bis er eines Tages auf der Terrasse seines Palastes angegriffen wird. Ein Mörder versucht das Herz des Königs mit einem Speer zu durchbohren. Unverletzt,  doch tief erzürnt, wird der König daraufhin die Angriffswaffe dreimal umschreiten und schließlich die letzte Schlacht einleiten.

 

Samdong Rinpoche beschreibt, dass die Barbaren mit Eisenflugzeugen die äußeren Schneeberge überfliegen. Nachdem, sie die acht äußeren Fürstentümer erobert haben, werden sie sich viele Jahre lang bemühen, den noch höheren inneren Ring von Schneebergen zu überwinden, der das Zentrum des Königreiches schützt. Nach zahlreichen fehlgeschlagenen Versuchen und vielen Unfällen gelingt es ihnen schließlich, auch dieses Hindernis zu meistern, und sie stoßen bis in die Hauptstadt Kalapa vor. Rudra Chakrin empfindet für die Barbaren nur Mitgefühl und wünscht ihnen nichts Böses. Er heißt sie sogar willkommen und lädt ihren König ein, gemeinsam mit ihm über Shambhala zu herrschen. Eine Reihe von Jahren sind sie gleichberechtigte Partner auf dem Thron, doch dann wird der König der Barbaren versuchen Rudra Chakrin zu töten, um zur Alleinherrschaft zu gelangen. An diesem Punkt wird die letzte Konfrontation unvermeidlich. Nach Samdong Rinpoches Schätzung wird diese Entwicklung — von den Anfängen der Invasion der äußeren Fürstentümer bis zur letzten Schlacht — ungefähr fünfzig Jahre in Anspruch nehmen.

 

Da die Barbaren über eine überlegene Waffentechnik verfügen, muss Rudra Chakrin sie mit Hilfe seiner spirituellen Macht besiegen. Ein Kommentar zum Kalachakra beschreibt diesen Augenblick folgendermaßen: ,,Er wird reglos wie ein Berg werden und in die Meditation  des Besten aller Pferde eintreten. " Aus dieser meditativen Versenkung tritt dann eine magische Armee hervor — Elefanten, goldene Streitwagen, Steinpferde mit der Kraft des Windes, Kavallerie, Schwadronen und Millionen von Soldaten. Wir können nun die Bedeutung des Pferdes verstehen, dem Khamtul Rinpoche in seinem Traum in Shambhala begegnete. Es ist nicht nur Rudra Chakrins Reitpferd in der letzten Schlacht, sondern auch das Meditationsobjekt, das den König von Shambhala dazu befähigt, die spirituelle Kraft zu entwickeln, die  zur Unterwerfung der Barbaren gebraucht wird. Einige Lamas erkennen in den “Steinpferden mit der Kraft des Windes” Flugzeuge wieder. So nimmt Chopgye Trieben Rinpoche zum Beispiel an, dass mit dem “Stein” der Brennstoff der Flugzeuge gemeint ist, der aus den Felsen in der Erde gebohrt wird. Andere interpretieren den ,,Stein” als Rohmetall,  das zur Herstellung der Flugzeuge benötigt wird. Wie dem auch sei, die Meditation über das Beste aller Pferde befähigt Rudra Chakrin dazu, alle die Waffen und Fahrzeuge zu materialisieren, die die Barbaren mit Hilfe ihrer Wissenschaft und Technik herzustellen in der Lage sind.

 

Dem Heer von Shambhala werden auch die Reinkarnationen vieler tibetischer Lamas als befehlsführende Offiziere angehören. So soll der Abt des Klosters Reting in der Nähe von Lhasa zum Beispiel als der General wiedergeboren werden, der die Truppen der rechten Gehirgsflanke befehligen wird. Ein Lama aus Amdo in Osttibet wird in einer noch interessanteren Wiedergeburt auf den Plan treten. Er wird als der Befehlshaber des Heeres der Barbaren erscheinen und seine Truppen Rudra Chakrin in die Hände spielen. Zwar kommt er dabei um sein Leben, doch hilft sein Opfer, die Welt von den Barbaren zu befreien. Diesem Lama scheint in der Prophezeiung eine ähnliche Rolle zuzufallen wie  der Göttin, die als die Gemahlin des Barbarenkönigs auftritt, ihm die Existenz Shambhalas enthüllt und ihn dazu anstachelt, das geheime Königreich zu erobern.

 

Die beiden Heere werden in einer mächtigen Schlacht aufeinanderprallen, und diese Schlacht wird das Ende der Barbaren und ihrer materialistischen Lehren sein. Wie wir aus dem Gebet des Panchen Lama entnahmen, werden Elefanten die anderen Elefanten überwältigen, die Pferde Shambhalas werden die anderen Pferde unter ihren Hufe zermalmen, die Streitwagen des Königs werden die anderen Streitwagen zersplittern und die Krieger Rudra Chakrins werden die Soldaten des Barbarenheeres niedermachen. Rudra Chakrin selbst wird dem König der Barbaren seinen Speer in das Herz stoßen, und der erste General Hanumanda wird den Oberbefehlshaber der Barbaren töten (siehe Bildtafel 4). Jeder, der in dieser Schlacht den Tod findet — einschließlich des feindlichen Tyrannen — wird Befreiung erlangen oder zumindest in einem Reinen Land Wiedergeburt finden. Vom König von Shambhala getötet zu werden, ist in Wahrheit ein großes Glück. Aus diesem Grunde beten viele Tibeter darum, als Insekten wiedergeboren zu werden, die in der letzten Schlacht zerquetscht werden.

 

Nach seinem Sieg wird Rudra Chakrin seine Herrschaft über die gesamte Welt ausdehnen und das Goldene Zeitalter einrichten. Alle Kämpfe und Auseinandersetzungen kommen zu einem Ende, und die Welt wird zu einer friedlichen Erweiterung Shambhalas. Die Menschen werden nicht mehr arbeiten müssen, um ihr tägliches Brot zu verdienen. Die Bäume werden Früchte tragen und das Getreide wird wachsen, ohne dass dazu ein künstlicher Anbau notwendig wäre. Jeder wird einhundert Jahre alt werden, ohne wegen Krankheit oder Krieg besorgt sein zu müssen. Der Haupttext des Kalachakra verspricht den Menschen sogar eine Lebensdauer von achtzehnhundert Jahren. Obwohl die Menschen auch weiterhin sterben müssen, werden sie doch den Tod nicht länger fürchten, denn sie wissen, dass der Tod die Befreiung bringt oder die Wiedergeburt in einem Reinen Land, das noch größere Entfaltungsmöglichkeiten bietet als Shambhala. Unter der Herrschaft Rudra Chakrins werden die Lehren des Buddhismus, insbesondere die Lehren des Kalachakra auf der ganzen Welt zu hoher Blüte kommen. Auch wenn diese Lehren nicht alle Menschen während dieses Lebens zur Befreiung führen, machen alle auf dem Weg geistiger Entwicklung große Fortschritte und gewinnen magische Kräfte — wie zum Beispiel die Fähigkeit, mit Hilfe eines einzigen Tagesmarsches unglaubliche Entfernungen zurückzulegen. Wissenschaft und Technik werden gedeihen und nur noch friedlichen Zwecken dienen. Während dieser Zeit werden viele Weisen der Vergangenheit wieder zum Leben erwachen und glückliche Wesen auf dem Weg zur Befreiung leiten — dem Pänchen Lama zufolge werden sie so zahlreich sein “wie Staubkörner auf dem Land”.

 

Die Tibeter sind sich über die Frage uneins, ob das Goldene Zeitalter  enden wird oder nicht. Einige Lamas nehmen an, das Goldene Zeitalter werde  ewig währen. Andere lassen es nur ein Jahrtausend dauern, wieder andere sprechen von achtzehnhundert Jahren. Die Schriften lassen die Entscheidung offen. Die meisten Texte stimmen jedoch darin überein, dass acht weitere Könige auf Rudra Chakrin folgen werden. Damit erhöht sich die Zahl der Könige Shambhalas von der Zeit des Buddhas bis zum Ende des Goldenen Zeitalters auf insgesamt vierzig. Unter diesen finden wir die Namen von Vishnu-Avataren, die Kalki, dem hinduistischen Pendant zu Rudra Chakrin, vorausgehen. Da der Dynastie der fünfundzwanzig Kulika-Könige sieben religiöse Könige vorausgehen, ist Rudra Chakrin eigentlich der zweiunddreißigste König Shambhalas. Nach den Ausführungen des Kalachakra–Haupttextes verringert sich die Dauer eines Menschenlebens von eintausendachthundert Jahren unter der Herrschaft der beiden ersten Nachfolger Rudra Chakrins bis auf hundert Jahre unter der Herrschaft des letzten der vierzig Könige. Das Kalachakra–Tantra läßt jedoch völlig offen, was danach geschehen wird. Es sagt nichts darüber aus, was sich in der Welt ereignen wird, es verliert kein Wort über die ferne Zukunft Shambhalas."

 

Einer bekannteren buddhistischen Prophezeiung zufolge geraten die Lehren Gautama Buddhas zunehmend in Verfall und können insgesamt nur fünftausend Jahre überdauern. Danach wird der Buddhismus verschwinden, Verderbtheit wird triumphieren, und das Menschenleben wird kurz und elend sein. Dann werden sich die Zustände allmählich verbessern, bis schließlich viele tausend Jahre später Maitreya, der nächste Buddha, erscheint, ein Goldenes Zeitalter einleitet und die Welt erleuchtet. Maitreya ist der fünfte in einer Reihe von eintausend Buddhas. Jeder dieser Buddhas bringt seine eigenen Lehren mit sich und ersetzt die korrupten Überreste des Lehrsystems seines Vorgängers. Wie die hinduistische Zeitrechnung geht auch diese Prophezeiung von sich wiederholenden Zyklen des Verfalls und der Erneuerung aus.

 

Die meisten Lamas verbinden diese beiden Prophezeiungen miteinander und sagen, dass das Goldene Zeitalter von Shambhala endet, wenn der Buddhismus fünftausend Jahre nach dem Tod des Buddhas seinen Tiefpunkt erreicht hat. Dann wird die wahre Lehre bis zur Ankunft Maitreyas verschwinden. Bevor Rudra Chakrin die Barbaren besiegt, erscheinen insgesamt zweiunddreißig Könige von Shambhala, die jeweils einhundert Jahre lang regieren. Damit setzt das Goldene Zeitalter ungefähr dreitausendzweihundert Jahre nach dem Tod des Buddhas ein. Der Buddhismus hat der Prophezeiung Maitreyas zufolge dann noch achtzehnhundert Jahre lang Bestand. Durch ihre Voraussage, dass die Nachfolger Rudra Chakrins einen geringeren Teil der Welt beherrschen werden als ihr großer Vorgänger und dass die Lebensspanne der Menschen allmählich wieder abnehmen wird, deutet auch der Haupttext des Kalachakra einen allmählichen Verfall des Goldenen Zeitalters an. Thubten Jigme Norbu, der Bruder des gegenwärtigen Dalai Lama, gibt in seinem Buch Tibet eine der existierenden Fassungen vom Niedergang des Goldenen Zeitalters Shambhalas wider:

 

Eintausend Jahre lang wird echte Religiosität gelehrt, aber danach kommt das Ende der Welt. Auf Feuer folgt der Wind, der alles zerstören wird, was wir erbaut haben. Danach kommt das Wasser; es wird alles bedecken, was wir kennen. Nur wenige werden die Katastrophen in Höhlen oder auf Baumwipfeln überleben. Die Götter werden aus dem Paradies Ganden herabsteigen und die Überlebenden mit sich nehmen. Man wird sie lehren, damit die Religion nicht ausstirbt, und wenn dann die Winde den Milch-Ozean wieder aufschäumen lassen und die Welt erneut entsteht, werden jene Erleuchteten, die von der letzten Welt errettet worden waren, zu den Sternen im Himmel.“

 

Anschließend behauptet Bernbaum, dass die geschilderte Shambhala-Schlacht nur im Geiste stattfinde, obgleich er dem vorher selber widersprochen hat. Angesichts der geschilderten Militärfantasien erscheint eine solche Vergeistigung der Vorgänge absurd. Richtig ist, dass nach der Lehre des Kalachakra Tantra „innere“ und „äußere“ Vorgänge miteinander in Konvergenz stehen. Konkret bedeutet das, der Shambhala-Krieg wird sowohl im „Inneren“ wie im „Äußeren“ durchgeführt. Das ist eine Vorstellung, die wir auch aus dem Islam kennen. Es ist historisch durchaus möglich, dass die islamische Djihad-Idee, die auch zwischen einem äußeren und inneren Djihad unterscheidet in das Kalachakra-Tantra eingeflossen ist.

 

 

 

© Copyright 2003 – Victor & Victoria Trimondi

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