Als einer der ganz wenigen
Buddhisten, die auf die Kritik am Kalachakra-Tantra
mit ernst zu nehmenden Argumenten zu reagiert haben, ist der im Folgenden
abgedruckte Artikel von Thomas Lautwein,
Einzelmitglied der Deutschen Buddhistischen Union (DBU), zu werten. Wir
haben uns deswegen die Mühe gemacht, zu den einzelnen Punkten einen
ausführlicheren Kommentar zu schreiben.
Kalachakra: Mythos und
Realität - einige Bemerkungen zur Kritik fundamentalistischer und
„aufklärerischer" Gruppen an einem tibetisch-buddhistischen
Ritualsystem
Lautwein:
In den letzten
Wochen und Monaten häuften sich Berichte über massive Vorwürfe, die gegen
den tibetischen Buddhismus, den Dalai Lama, den buddhistischen Tantrismus
und die Kalachakra-Praxis erhoben wurden: Fundamentalistische
christliche Gruppen und atheistische Religionskritiker versuchen gezielt,
die Kalachakra-Einweihung, die der Dalai Lama im
Oktober in Graz geben wird, als ein schwarzmagisches oder abergläubisches
Spektakel darzustellen, bei dem die Teilnehmer manipuliert werden sollen,
um sie für die aggressiven Welteroberungspläne des tibetischen Buddhismus
zu instrumentalisieren. Dem tibetisch-buddhistischen Vajrayana
(Tantrismus) wird dabei unterstellt, frauenfeindlich, fanatisch,
kriegerisch und menschenverachtend zu sein. Schließlich wird perfiderweise behauptet, es bestünde eine geheime
Allianz zwischen neonazistischen Gruppen und dem Dalai Lama, die gemeinsam
antisemitische und antichristliche Ziele verfolgten.
In den tibetisch-buddhistischen Zentren und Gemeinschaften stellen wir
fest, dass westliche Buddhisten in zunehmendem Maße aggressiv angegangen
werden, dergestalt, dass besorgte Arbeitskollegen ihnen nahe legen,
„Aufklärungsveranstaltungen“ des „Buddhismus-Experten“ Martin Kamphuis zu besuchen, oder dass ihnen im
interreligiösen Dialog das Buch von Victor und Victoria Trimondi
vorwurfsvoll entgegengehalten wird. Auch innerhalb der Anhänger des
tibetischen Buddhismus macht sich Verunsicherung breit, und ich bin in
meiner Eigenschaft als Vorstandsmitglied von Chödzong
e.V. und Mitarbeiter des tibetischen Lamas Dagyab
Kyabgön Rinpoche schon
mehrfach gefragt worden, ob denn an diesen Vorwürfen nicht doch etwas dran
sei. Auch bei anderen buddhistischen Gruppen, die nicht-tibetischen
Traditionen angehören, gibt es sicherlich Bedenken und Vorbehalte gegen das
buddhistische Tantra.
Trimondi:
Dass endlich eine
Auseinandersetzung mit dem Kalachakra-Tantra
stattfindet ist eine gute und förderliche Entwicklung. Schließlich
herrscht, was dieses Ritual anbelangt, selbst bei lang praktizierenden
Buddhisten eine große Unsicherheit. Wir begrüßen es deswegen, dass endlich
von buddhistischer Seite die Debatte über die Tantra-Texte und -Praktiken
geöffnet wird.
Lautwein:
Die Frage,
inwieweit dieses noch authentischer Buddhismus ist, und ob es nicht ein
Mischmasch aus Hinduismus, Schamanismus und degeneriertem indischem
Spät-Buddhismus sei, ist legitim, auch wenn sie einem Tibeter nie in den
Sinn käme.
Trimondi:
In der Tat sind aus diesen
verschiedenen Kulturströmungen bestimmende Elemente in den tibetischen
Buddhismus eingeflossen, insbesondere auch in das Kalachakra-Tantra.
Hinzukommen im letzten Fall noch manichäische und islamische Ideen. Diese
stehen teilweise in krassem Gegensatz zu Vorstellungen aus dem
Urbuddhismus.
Lautwein:
Für Tibeter
besteht nicht der geringste Zweifel, dass das Vajrayana
Lehre des Buddha ist und nur im Rahmen des allgemeinen Mahayana-Buddhismus
praktiziert werden kann. Da wir aber nicht in Tibet sind, und da wir keine
Tibeter sind, müssen wir uns solchen Zweifeln und Anfragen stellen.
Trimondi:
Für Tibeter besteht auch
kein Zweifel daran, dass der historische Buddha das Kalachakra-Tantra
ca. 800 Jahre v. Chr. dem Shambhala-König
Suchandra gelehrt hat (so ergibt es sich aus der Zeitrechnung des
Originaltextes), obgleich Buddha Shakyamuni ca.
500 v. Chr. gelebt hat. Der Kalachakra-Text ist
im 10. Jh. n. Chr. konzipiert worden. Nicht nur Westler, sondern auch
Tibeter, die im Westen leben, sollten sich mit solchen Widersprüchen
kritisch auseinandersetzen.
Lautwein:
Man erwartet
also offensichtlich, dass wir Anhänger des tibetischen und tantrischen
Buddhismus uns rechtfertigen, oder zumindest Stellung nehmen, was wir denn
da eigentlich treiben, wenn wir geheimnisvolle Einweihungen nehmen, täglich
unsere Mantras murmeln und unsere „Götter" anbeten.
Trimondi:
Das ist richtig! Stellung zu
beziehen und offen über die „geheimen Einweihungen“ und was dort genau
passiert zu sprechen, ist wichtig, vor allem bei so vielen offenen Fragen
und bei der zunehmend sich artikulierenden Kritik.
Lautwein:
Ich will nun
versuchen, in Kürze einige grundlegende Tatsache über das Kalachakra-Tantra und das Vajrayana
klarzustellen. Dabei kann ich natürlich nicht alle im Detail erläutern,
schließlich haben wir es hier mit einem unglaublich komplexen religiösen
Phänomen zu tun, das man jahrelang studieren und praktizieren kann.
Was also ist Kalachakra?
Buddhistisches Tantra (Vajrayana,
Diamantweg) - Seit dem 4./5.
Jahrhundert entstanden in Indien tantrische Meditations-Systeme, die nach
und nach in den Hinduismus, Jainismus und Buddhismus integriert wurden.
„Tantra" bezeichnet ursprünglich die Textur, die „Kette" eines
Gewebes, und ist im Buddhismus zunächst die Bezeichnung für einen Text, in
dem der Buddha in Gestalt einer sogenannten tantrischen Meditationsgottheit
(tibetisch: Yidam) auftritt und eine
Meditationsmethode erklärt. Jedes tantrische System dreht sich um eine
solche Gottheit, die einen bestimmten Aspekt des Buddha
verkörpert, so wird z.B. Avalokiteshvara als
Inbegriff der Güte und Barmherzigkeit aller Buddhas gesehen. Der Tantriker
soll sich nun mit dieser Gottheit in der Meditation identifizieren, um mit
ihr eins zu werden und ihre Qualitäten zu verkörpern. Mittel dazu sind die
Meditation über das Mandala der Gottheit, Rezitation von Mantren, Durchführung von Ritualen (die größtenteils
aus endlosen Darbringungen von Opfergaben bestehen) und die ständige
Identifikation mit der gewählten Gottheit.
Trimondi:
Bei der in den tantrischen
Praktiken geforderten Identifikation mit einer Gottheit („Gottheitsyoga“)
geht es nicht um irgendwelche transpersonale Wesenheiten, sondern um die in
den jeweiligen Tantra-Texten kodifizierten Gottheiten. Der Schüler kann
sich also nicht ohne weiteres mit „Göttern“ aus anderen Kulturkreisen
„gleichschalten“. Viele dieser tantrischen „Gottheiten“ (Yidam) weisen von vornherein aggressive, ja mörderische
Charaktermerkmale auf, so dass wir sie nach europäischem Verständnis eindeutig
als „Dämonen“ kennzeichnen müssen. Sie verlieren nicht ihre aggressiven
Züge, etwa durch die meditative Transformation ihres Charakters, sondern
werden für die buddhistische Lehre als Schutzdämonen („Dharmapalas“)
in den Dienst gestellt. Ein typisches Beispiel für einen in das Pantheon
des tibetischen Buddhismus übernommene Dämonin
ist die „Schutzgöttin“ des Dalai Lama, Palden Lhamo mit Namen. Sie reitet – in der ikonographischen
Darstellung – auf einem Maultier durch einen Blutsee. Ihr Sattel ist aus
der von ihr selber abgezogenen Haut des eigenen Sohnes gefertigt, der sich
geweigert hatte, die buddhistische Lehre anzunehmen. Lautwein
verschweigt, dass auch jeder Buddha und jeder Bodhisattva
im tantrischen System grundsätzlich zwei Aspekte aufweist, einen gütigen
und einen zornvollen (Heruka-Aspekt). Avalokiteshvara der „Inbegriff der Güte und
Barmherzigkeit“ kann ebenfalls in der Gestalt des Totengottes Yama erscheinen und seine Güte kann darin bestehen,
einen Menschen ins Jenseits zu befördern.
Lautwein:
Das
Charakteristische der tantrischen Methode ist also die Identifikation mit
einer Gottheit, die als Buddha-Aspekt gesehen wird. Es ist klar, dass aus
Sicht monotheistischer Religionen ein solcher Versuch der
„Selbstvergöttlichung" als blasphemisch und „satanisch"
erscheinen muss, da in ihnen eine Einheit von Schöpfer und Geschöpf nicht
möglich ist.
Trimondi:
Der Prozess der
„Selbstvergöttlichung“ ist nicht nur ein Problem für Anhänger der
monotheistischen Religionen, sondern ebenfalls für Humanisten. Durch diese
Praxis wird das humanum,
das Menschliche, aufgehoben. Der Mensch zählt letztlich nichts mehr, der
Gott ist alles, das heißt: das Individuum, die Seele, die Substanz einer
Persönlichkeit werden zugunsten eines Überwesens aufgehoben beziehungsweise
diesem untergeordnet. Das ist insbesondere dann problematisch, wenn dieses
Überwesen eine aggressive und kriegerische Wesenheit darstellt, wie dies in
den Tantra-Riten oft der Fall ist. Nicht der Friedensaspekt des Buddhismus
bestimmt den Charakter der meisten Tantras, sondern der Schreckensaspekt.
Es herrscht dort jedenfalls die (un-buddhistische)
Logik, dass es zuerst zu einer Entfesselung des Schreckens kommen muss,
bevor der Frieden einkehren kann.
Lautwein:
Tatsächlich kann
man sich auch fragen, ob eine solche Praxis denn nicht tatsächlich zu einer
Ego-Aufblähung und Größenwahn führen kann, worauf man antworten muss, dass
dies allerdings eine der größten Gefahren der tantrischen Praxis ist, an
der schon viele gescheitert sind.
Trimondi:
Diese Gefahr liegt nahe, sie
führt zu Willkür, Machtmissbrauch, Wahnideen wie bei Chögyum
Trungpa, Ole Nydahl
oder dem japanischen Sektenguru Shoko Asahara und deren Anhängern.
Zahlreiche solcher Fälle sind in den letzten Jahren bekannt geworden. Aber
nicht nur die „Ego-Aufblähung“ ist das Problem, sondern die tantrischen
„Schreckensgötter“ selber bilden eine Gefahr, wenn sie, sei es auch nur in
der Form kulturprägender Imaginationen, auf die Menschheit losgelassen
werden.
Lautwein:
Es sind aber
innerhalb des Vajrayana (Tantra) einige
Sicherungen vorgesehen, die genau das verhindern sollen: Vorausgesetzt wird
bei jedem Tantriker die allgemein buddhistische Zufluchtnahme, eine
zumindest ehrliche Bemühung um die Bodhicitta-Motivation,
und ein gründliches Verständnis von Leerheit.
Trimondi:
Ein Verständnis von Leerheit
ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass die tantrischen Schreckensgötter
durch Imagination hervorgebracht und wieder aufgelöst werden könne. Es
handelt sich bei der Shunyata-Praxis
(Leerheitsmeditation) auch um die höchste Ausdrucksform einer
Machtimagination: Der Yogi wird zum Herrn der Götter, der diese ex nihilo
schaffen und wieder vernichten kann. Weder die „Zufluchtformel“
noch die „Bodhicitta-Motivation“ sind ein Schutz
vor Despotismus. Im Gegenteil, sie haben es erlaubt, dass die im Tantrismus
allgemein geforderten unmoralischen und verbrecherischen Handlungen (auf
die wir noch zu sprechen kommen) eine höhere „ethische“ Legitimation
erhalten.
Lautwein:
In jeder
tantrischen Praxis muss am Anfang darüber meditiert werden, dass man diese
Praxis nicht zum eigenen Vergnügen durchführt, sondern „zum Wohle aller
Lebewesen", und dass die „Gottheiten" (Yidams)
abhängig entstandene Phänomene sind, die ihrer Natur nach leer sind.
Trimondi:
Die Mahayana-Formel „zum
Wohle aller Wesen“ wird hier im Westen oft missverstanden. Es handelt sich
dabei weder um eine reine „Sozialethik“, die sich um den sozialen Einsatz
für die Mitmenschen bemüht, noch um das Prinzip Barmherzigkeit, wie dies im
Christentum verstanden wird. Durch die Karma-Lehre zeigt der Buddhismus
eine gewisse „a-soziale“ Einstellung, denn alles Leid, das ein Mensch
erfährt, soll aus der Ansammlung seines schlechten Karmas entstanden sein. Vice versa –
aus gutem Karma entsteht eine gute soziale Position. „Zum Wohle aller
Wesen“ wirken allein Handlungen und Lehren, die Lebewesen zu der Erkenntnis
bringen, sich von der Bedingtheit alles Seienden zu lösen, d. h. die
„Wahrheiten des Buddhismus“ zu erkennen und ihnen zu folgen. Es handelt
sich deswegen im Grunde um eine Missionsformel, die besagt, dass es zum
Wohle aller Wesen ist, den Grundsätzen des Buddhismus zu folgen. Das gilt
für den Mahayana-Buddhismus. Anders ist es jedoch im buddhistischen
Tantrismus: Hier werden bei einer wörtlichen Deutung der Originaltexte
eindeutig Verbrechen bis hin zum Mord „zum Wohle aller Wesen“ verlangt.
Lautwein:
Außerdem ist die
tantrische Praxis abhängig von der Vermittlung und Betreuung durch einen
qualifizierten Vajra-Meister, d.h. einen Guru
oder Lama, der den Schüler in die tantrische Realität einführt und ihm die
Befähigung überträgt, sich in dieser zu bewegen. Die
Lehrer-Schüler-Beziehung im Vajrayana ist
besonders problematisch, da sie traditionell so dargestellt wird, dass der
Lehrer als Buddha zu betrachten ist und der Schüler angewiesen ist, alle
Aktivitäten des Lehrers als vollkommen und rein zu betrachten. Ich möchte
hier, um nicht zu ausführlich zu werden, auf die Aufsätze meines Lehrers Dagyab Kyabgön Rinpoche verweisen, der zu diesem Punkt immer wieder
betont, dass der tantrische Lehrer in Wirklichkeit der gemeinsame karmische
„Hintergrund" von Lehrer und Schüler ist, dass es genügt, den Lehrer
während der Einweihung als Buddha zu sehen, und dass der Schüler auch im
Tantra das Recht hat, Anweisungen des Lehrers zu ignorieren, die in
eklatanter Weise gegen die allgemeine buddhistische Ethik verstoßen.
Trimondi:
Der Lehrer hat im Tantrismus
die absolute Gewalt über den Schüler. Das System beruht auf seiner vollständigen
Unterwerfung und Schweigepflicht. Handlungen des Lehrers müssen, wie absurd
und verbrecherisch sie auch erscheinen mögen, als eine Aufgabe auf dem
Initiationsweg gesehen werden (siehe die Legenden von Naropa
und Milarepa). Zur Lehrer-Schüler-Beziehung ein
Zitat des XIV. Dalai Lama, das er als Kalachakra-Meister
zu seinem Schüler spricht: „Was ich Dir auftrage, das musst Du tun. Du
sollst mich nicht gering schätzen, und falls Du es tust, wird die Zeit des
Todes kommen, ohne dass die Angst von Dir weicht, und du wirst in eine
Hölle stürzen.“ (Dalai Lama – Kalachakra-Tantra
– Berlin 2002, 251) Das Problem potenziert sich noch, da in den Tantras
eine Verletzung der buddhistischen Grundgelübde und ethischen Normen
geradezu gefordert wird, um den Initianten in einen Zustand jenseits von
Gut und Böse zu katapultieren.
Lautwein:
Hier sind zwei
Vorwürfe zurückzuweisen: Dem Tantra-Schüler wird nicht eine Gottheit
„implantiert", die seine Persönlichkeit auslöscht, vielmehr soll der
Schüler seine Persönlichkeit durch den Kontakt zu einer transpersonalen
Ebene transformieren. Eine echte tantrische Lehrer-Schüler-Beziehung ist
keine spirituelle Sklaverei, sondern definiert sich durch eine tiefe
Verbindung auf einer subtilen Ebene („Hintergrund", um wieder Dagyab Rinpoche zu zitieren).
Trimondi:
Das ist nicht richtig! Die
Auflösung der Persönlichkeit, des Individuums und des Ichs ist schon eine
Forderung der Anatta-Lehre, die allen
buddhistischen Schulrichtungen zugrunde liegt. Ein wesentlicher
Charakterzug buddhistischer Meditationspraxis besteht in der Dekonstruktion
des Ichs. Im sogenannten „Gottheitsyoga“ des Tantrismus, wird dieses Ich
durch die Gottheit ausgewechselt. Es gibt nicht nur einen Kontakt der
Persönlichkeit zu einer transpersonalen Ebene, sondern die transpersonale
Ebene (sprich die Gottheit als ein Buddha-Aspekt) benutzt den Körper des
Initianten als ihr „Gefäß“. Dies ist
ein terminus technicus
der immer wieder in den Tantra-Texten gebraucht wird. Es ist notwendig,
schreibt der I. Dalai Lama im Zusammenhang mit dem Kalachakra-Tantra,
„den Adepten in ein Gefäß zu verwandeln“.
Lautwein:
Wenn wir uns die
Symbolik des Tantrismus ansehen, werden wir feststellen, dass sie viel Gemeinsamkeiten mit dem gleichzeitigen Hinduismus
hat. Es ist nicht zu bestreiten, dass die meisten buddhistisch-tantrischen
Gottheiten den Versuch darstellen, den Göttern des Hinduismus, der den
Buddhismus in seiner indischen Spätphase immer mehr bedrängte, etwas
entgegenzustellen, was ihren Einfluss neutralisiert oder kontrolliert. In vielen Tantras heißt es daher, der Buddha habe sich als
diese oder jene Gottheit manifestiert, um einen bestimmten Hindu-Gott zu
„zähmen". Anders ausgedrückt: Buddhistischen Meditierenden erschien
der Buddha in ihren Visionen in einer Gestalt, die an ihnen vertraute
indische Gottheiten gemahnte und von ihnen gleichzeitg
als „Buddha" erlebt wurde. Meistens ist ein starker Bezug zu Shiva (Rudra) erkennbar, so ist z.B. Vajra-Bhairava
das buddhistische Gegenstück zu Bhairava, einer
furchterregenden Shiva-Form, ebenso wie Cakrasamvara
und Vajrayogini erklärtermaßen ein Gegenbild zu
Shiva und Parvati sind.
Trimondi:
Dieser starke hinduistische
Einfluss sollte zu der Prüfung Anlass geben, inwieweit der buddhistische
Tantrismus überhaupt noch etwas mit den Lehren des Urbuddhismus zu tun hat.
Auf den ersten Blick scheint er mit seinem Götter- und Dämonenheer
und seinen magischen Beschwörungen geradezu das Gegenteil darzustellen.
Es ist falsch zu behaupten,
dass der tantrische Buddhismus die wilden Hindugottheiten zähmen will. In
keinem Tantra ist davon die Rede. Er besiegt sie und stellt sie dann als
Schützer der buddhistischen Lehre in seinen Dienst. Die in tantrische „Dharmapalas“ transformierten Hindugottheiten gehorchen
dem Befehl des Tantra-Meisters. Die Schützer verändern ihren
Schreckenscharakter nicht, sondern potenzieren diesen noch, nur kämpfen sie
jetzt auf der anderen Seite der Barrikade als Erfüllungsgehilfen der
Buddhisten. Grausamkeit und Terror werden im Tantrismus nicht sublimiert
oder abgeschafft, sondern nur unter die Kontrolle gebracht. Das ist etwas
völlig anderes als Herr Lautwein behauptet.
Lautwein:
Im Lauf der
Jahrhunderte wurden die tantrischen Systeme immer komplexer, es wurden
immer mehr nicht-buddhistische Elemente integriert, die für den Buddhismus
nutzbar gemacht werden sollten. Hierzu gehören u.a. Erfahrungen mit dem
feinstofflichen Körper und magische Elemente, darunter auch Sexualmagie und
Praktiken, die wir als nahezu nekromantisch
bezeichnen können.
Trimondi:
Die nekromantische
Seite des buddhistischen Tantrismus ist wirklich ein düsteres Kapitel und
es ist gut, dass Lautwein darauf zu sprechen
kommt. Der Umgang mit Substanzen von Toten (Hirn, Blut, Innereien, Knochen)
und das Meditieren auf Friedhöfen und vor Leichen hat in den tantrischen
Praktiken eine große Bedeutung und führt zu abartigen Vorstellungen. Dazu
rechnet auch der rituelle Verzehr von Menschenfleisch. Der Buddhismusforscher Volker Zotz
kommt deswegen zu dem Schluss: „Eine Bewegung wie Tantra, die von
Geheimhaltung spricht und auch im buddhistischen Rahmen Riten verwendet, in
denen Schädelschalen, kultische Messer, symbolische Tötungen und Bilder
dämonischer Gestalten in sexueller Vereinigung eine Rolle spielen, ist
naturgemäß auch anziehend für solche, welche die dunklen Seiten des Daseins
attraktiv finden. [….] Tantrische
Rituale bergen für den, dem sie Realität bedeuten, vielerlei Gefahren,
statt des erhofften Erwachens in Abgründe zu fallen. Schon der Totenschädel
im religiösen Kult kann für den einen Mahnung an Vergänglichkeit sein, der
andere mag destruktiven Kitzel spüren, eine Faszination des Todes.“ (Volker
Zotz – „Kot, Urin und Menschenfleisch“ – in
„Ursache & Wirkung“ Nr. 4 – 2000 – 31) Dass diese Faszination des Todes
im Lamaismus, eine starke Attraktivität auf die SS-Männer der Tibetexpedition 1938/1939 ausübte, zeigen wir
detailliert in „Hitler-Buddha-Krishna“
in dem Kapitel. „Nekrophilie in der SS und im Lamaismus – ein
Kulturvergleich“ (149 ff.)
Lautwein:
Kalachakra - Das späteste tantrische System, das im 10./11.
Jahrhundert hervortrat, ist nun das Kalachakra-Tantra,
das „Rad der Zeit". Zu dieser Zeit war der Buddhismus in Indien
bereits im Niedergang begriffen. Es häuften sich die Einfälle moslemischer
Heere, die vom Iran und dem heutigen Afghanistan aus immer wieder Einfälle
in Nordindischen unternahmen und schrecklich unter den Hindus und
Buddhisten wüteten, die in ihren Augen ja nur „Götzendiener" waren.
Der Hinduismus konnte diese Schläge verkraften, doch die Zerstörung der
buddhistischen Klöster brach dem indischen Buddhismus, der ohnehin schon
zunehmend Anhänger an den Hinduismus verlor, das Rückgrat. Wenn wir uns nun
versuchen, uns in die Situation eines indischen Buddhisten dieser Zeit zu
versetzen, so können wir wohl verstehen, dass ihm eine derartige
katastrophale Situation als Untergang der Welt erscheinen musste. Genau
diese Stimmung finden wir nun im Kalachakra-Tantra
gespiegelt: Es ist eine buddhistische Apokalypse, die den anbrechenden
Weltuntergang beschreibt und versucht, den letzten verzweifelten Buddhisten
etwas Hoffnung zu machen, indem sie eine Geschichtsdeutung unternimmt und
ihnen die Hoffnung auf eine bessere Zeit macht, bzw. die Verheißung
enthält, dass es irgendwo an einem sicheren Ort ein Friedensreich gibt, an
dem der Buddhismus aufbewahrt wird.
Trimondi:
Das ist sicher richtig.
Deswegen beinhaltet das Kalachakra-Tantra auch
eine Weltuntergangsvision und ist damit kein Beitrag zu Weltfrieden, wie
das nach außen hin proklamiert wird. Das macht es als Kulturentwurf für das
Zusammenleben der Völker und für eine friedvolle Weltgemeinschaft
gefährlich, ja geradezu unbrauchbar.
Lautwein:
Das Kalachakra-Tantra ist also vergleichbar mit der
Offenbarung des Johannes, die ebenfalls das Thema "Weltuntergang"
behandelt. Auch die „Offenbarung" enthält sehr düstere, unheimliche
Bilder, und gipfelt am Ende in einer Vision vom Sieg des Guten und der
Errichtung des himmlischen Jerusalems bzw. des tausendjährigen Reiches
enthält.
Trimondi:
Apokalypsen gibt es in allen
Religionen. Sie sind ein höchst problematisches Kulturerbe der gesamten
Menschheit, weil sie den Untergang beschwören und meist auch einen
Vernichtungskrieg gegen Andersgläubige. Sie bauen auf einem krassen
Feindbild auf. Viele westliche Menschen sind aber gerade deswegen zum
Buddhismus konvertiert, weil sie glaubten, dem apokalyptischen Szenario der
monotheistischen Religionen entkommen zu können und hier eine Zuflucht des
Friedens vorzufinden. Das Kalachakra Tantra ist
jedoch noch „apokalyptischer“ als die monotheistischen Pendants. Verbunden
mit der hinduistischen Theorie vom Kali-Yuga, dem
untergehenden Zeitalter, erweist sich die buddhistische Apokalypse als eine
unumstößliche Notwendigkeit, die sich immer wiederholt, bis in alle Ewigkeit,
im steten Wechsel von Untergang und Wiederauferstehung.
Die Apokalypse der Yuga-Lehre unterscheidet sich unter anderem von der
christlichen dadurch, das letztere als ein
Ratschluss Gottes angesehen wird, die Apokalypse des Kalachakra-Tantra
aber wird bewusst vom Tantra-Meister in seinem mikrokosmischen Körper
simuliert und zwar durch die Entfesselung eines „inneren“
Zerstörungsfeuers, der so genannten „Candali“,
die alle Aggregate seines Energiekörpers zerstören soll. Diese aber
entsprechen dem Kosmos (Sonne, Mond und Sterne), der auch am Ende des Kali Yuga in einem Feuermeer verschwindet.
Lautwein:
Genauso, wie die
Offenbarung des Johannes viel Unheil bei psychisch labilen Christen
gestiftet hat, die bei dem Versuch, das Datum des Weltuntergangs aus der
Schrift zu errechnen, den Verstand verloren haben, genauso kann natürlich
auch das Kalachakra-Tantra zu den blühendsten
Phantasien und Wahnvorstellungen Anlass geben. Die Versuchung liegt nahe,
die derzeitige Weltlage als Erfüllung von Prophezeiungen aus dem Kalachakra-Tantra zu sehen, aber damit begibt man sich
auf das Niveau der Zeugen Jehovas.
Trimondi:
Die Apokalypse des Johannes
hat in vielen christlichen Religionskriegen eine fatale Rolle gespielt. (Zum
Beispiel diente sie als Begründung für beide Parteien im 30 jährigen Krieg)
Auch die buddhistische Apokalypse wurde immer wieder bei historischen
Ereignissen beschworen: bei den Mongolen, den japanischen Faschisten, in
den tibetischen Lokalkriegen. Sie diente dem japanischen Sektenführer Shoko
Asahara als Orientierungsmodell für seine Terroranschläge.
Lautwein:
Das Kalachakra-Tantra ist jedoch weitaus tiefgründiger.
Neben den geschichtstheoretischen Aspekten, die ich hier auch nicht weiter
ausführen kann, die aber samt und sonders auf allgemein buddhistischen
Vorstellungen und den Sutras beruhen, ist das Kalachakra-Tantra außerdem ein Versuch, das Phänomen
ZEIT buddhistisch zu erfassen. Hierzu muss man nun wissen, dass die Zeit (kâla) im alten Indien als eine konkrete Entität mit
göttlichen Zügen aufgefasst wurde, so dass man sogar von einem Gott der
Zeit sprechen kann. Es gab anscheinend auch ein philosophisches System, das
sich „Philosophie der Zeit" (kâlavâda)
nannte (siehe hierzu F.I Schtscherbazkoj,
Erkenntnistheorie und Logik nach der Lehre der späteren Buddhisten, Kapitel
II, „Zeitschrift für Buddhismus" N.F. Heft 7/12, München 1922, S. 275
ff.). Die Zeit war im alten Indien (wie übrigens auch bei den Griechen) ein
kosmisches Phänomen, das sehr eng mit der Bewegung der Planeten, den
Jahreszeiten, den Lebensstufen des Menschen usw. zu tun hatte. Es darf uns
daher nicht verwundern, dass im Kalachakra-System
die komplette altindische Astrologie integriert ist, und dass das Kalachakra-System bis heute Grundlage des tibetischen
Kalenders ist.
Trimondi:
Die Personalisierung der
Zeit im Kalachakra Tantra macht es möglich, dass
der ausführende Tantra-Meister sich als Zeitgott
versteht, als Herrscher über die Zeit. Tatsächlich lässt sich der Dalai
Lama während der Kalachakra-Zeremonie als Zeitgott („Kalachakra“)
anbeten und von allen an dem Ritual Beteiligten als Zeitgott
imaginieren. Sogar die bürgerliche Presse hat dieses Phänomen wahrgenommen.
So schrieb NEWS-Networld, die Internetseite der
großen österreichischen Wochenzeitung News, am 21. 10. 2002 folgende
Headline: „Heute – Höhepunkt des Weltbuddhistentreffens – Dar Dalai Lama wird zum Zeitgott“
Lautwein:
Des weiteren enthält das Kalachakra ausführliche
Unterweisungen über die Physiologie des subtilen menschlichen
Energiekörpers, in diesem Punkt unterscheidet es sich nicht von den anderen
Tantras der höchsten Tantra-Klasse (die tantrischen Texte werden in vier
sog. „Tantra-Klassen" eingeteilt, von denen das Anuttara-Yoga-Tantra
die höchste ist).
Shambala - Innerhalb des Kalachakra-Tantra wird der Mythos von Shambala erzählt. Shambala
soll ein Königreich irgendwo nördlich von Indien sein, dessen erster König
vom Buddha selbst in das Kalachakra-Tantra
eingeweiht wurde. Seitdem wird Kalachakra im
Königreich Shambala praktiziert, das als Ideal
einer gerechten, buddhistischen Gesellschaft geschildert wird. Shambala ist für gewöhnliche Menschen nicht zugänglich
und kann nur in Visionen oder von Auserwählten betreten werden (eine
Gemeinsamkeit mit der Gralsburg - darauf komme ich später noch zurück).
Derzeit soll in Shambala der 21. König regieren,
dessen Regierungszeit im Jahr 2027 u.Z. enden soll. Im Jahr 2425 wird Shambala von dem „mleccha"-König
Lalo entdeckt und angegriffen werden. Der Begriff
„mleccha" ist nicht ganz klar,
wahrscheinlich bezieht er sich aber auf die Moslems, die im Mittelalter in
Indien einfielen, und dient als Sammelbegriff für alle Nicht-Buddhisten, die
den Buddhismus aggressiv bedrohen. Rudra Shakri, der 25. König von Shambala,
wird diesen Angriff zurückschlagen und anschließend eine weltweite neue
Friedenszeit einläuten.
Trimondi:
Also ein Religionskrieg
zwischen Buddhisten und Nichtbuddhisten, insbesondere zwischen Buddhisten
und Moslems. Der Originaltext
bezeichnet die buddhistische Kriegsführung als "gnadenlos" und "grausam". Dort heißt es:
"Die äußerst wilden Krieger
werden die barbarische Horde niederwerfen" und "eliminieren." (Shri Kalachakra
I. 163/165) In mehreren Strophen beschreibt der Text die mörderischen
Superwaffen, welche die buddhistische Armee gegen die "Feinde der
Lehre" einsetzt. (Shri Kalachakra I. 128 – 142) Der historische
Buddha hat den Krieg in jeglicher Form abgelehnt. Es gab für ihn keinen
"Gerechten Krieg" und schon gar keinen "Heiligen
Krieg". Im Kalachakra-Tantra werden die
Hauptvertreter der semitisch-monotheistischen Religionen „Adam, Henoch, Abraham, Moses, Jesus, Mani, Mohammed und der
Mahdi“ als die „Familie der dämonischen Schlangen" bezeichnet, die mit
"Tamas", das heißt mit Eigenschaften der Finsternis, der
Täuschung und der Unwissenheit ausgestattet sind. (Shri Kalachakra I. 154) Ein
eschatologischer Religionskrieg gegen das "barbarische Dharma", insbesondere gegen den Islam, soll nach
der Shambhala-Prophezeiung einer weltweiten
Errichtung des "buddhistischen Dharmas"
(des Buddhismus)
vorausgehen. Der Original-Text
spricht davon, dass das "machtvolle, gnadenlose Idol der Barbaren, die dämonische Inkarnation" - d. h. der Islam – in „Mekka“ lebt. (Shri Kalachakra
I. 154) In der Zeitschrift News vom 10. Okt. 2002 sagte der Dalai Lama: „Der Islam will als
Weltreligion gelten, setzt aber genauso wie das Christentum vor ein paar
Hundert Jahren vornehmlich auf Aggression. Das hat mit Religion nichts zu
tun, sondern bloß mit Macht. Und das war sicher nicht im Sinne des
Propheten Mohammed. Religion darf nicht von Macht geleitet werden.“ Solche
Sprüche gießen in einer Zeit, wo der Westen in eine zunehmende
Konfrontation zum Islam gerät, Öl ins Feuer.
Lautwein:
Was fällt uns hier auf? Offensichtlich greift der Shambala-Mythos
ein altes buddhistisches Motiv auf, nämlich das des Cakravartin,
des „Rad-Herrschers" oder Kaisers, der als gerechter Regent für
Frieden und Gerechtigkeit sorgt. Diesem Mythos begegnen wir bereits im
Pali-Kanon, und zwar in der 26. Lehrrede der
Längeren Sammlung (Cakkavatti-Sihanada-Sutta, DN
26). Ich kann auf diesen Text nicht näher eingehen, aber bei einem
Vergleich wird man sicher feststellen, dass der König von Shambala nichts anderes ist als ein Cakravartin.
Wenn man nun behauptet, dieser Mythos sei antidemokratisch, ist das
ziemlich albern; man kann doch im Ernst von Buddhisten des 11. Jahrhunderts
im alten Indien nicht verlangen, dass sie bereits die Idee einer modernen
Demokratie westlichen Typs kennen. Genau so gut
kann man Wolfram von Eschenbach vorwerfen, seine Schilderung des
Gralsordens im „Parzival" sei faschistoid und frauenfeindlich. Es sei
nur darauf hingewiesen, dass der Cakravartin in
den einschlägigen Texten als Friedensfürst geschildert wird, dem sich die
meisten freiwillig unterwerfen, weil sie sehen, dass unter seiner
Herrschaft großer Wert auf soziale Gerechtigkeit und Fürsorge gelegt wird.
Trimondi:
Das Kalachakra-Tantra beinhaltet die buddhokratische Staatslehre vom Chakravartin,
einem „Weltenherrscher“. „Am Ende der Zeiten wird der Chakravartin
aus der Götterstadt oberhalb des Berges Kailash
erscheinen. Er wird mit seiner eigenen Armee, die aus vier Dimensionen
besteht, in einer Schlacht die Barbaren in allen Teilen des Erdkreises
niederwerfen.“ – heißt es im Originaltext
des Kalachakra-Tantra. (Shri Kalachakra I. 161) Ein „Chakravartin“ gilt nach indischer
Tradition als absolutistischer „Priesterkönig“, als ein „Theokrat“, der die
religiöse, politische, juridische und
militärische Macht in Personalunion vereinigt. „Bürgerliche
Gewaltenteilung“ und Demokratie sind in dieser aus dem 10. Jahrhundert
stammenden „politischen Theologie“ und damit auch der Kalachakra-Vision
etwas völlig Unbekanntes. Man kann natürlich nicht den Verfassern des Kalachakra-Tantra vorwerfen, dass sie nicht
demokratisch gedacht haben, aber man kann dem Dalai Lama einen Vorwurf
machen, dass er solche buddhokratischen Rituale
in unserer Zeit durchführt. Der Chakravartin-Idee
wird auch durch die Errichtung des sogenannten Meru-Mandalas,
das tibetische Lamas in der ganzen Welt aufbauen, gefestigt.
Dagegen berichtet eine
Legende, dass Buddha Shakyamuni die
„Weltherrschaft“ ablehnte. Als er vor die Wahl gestellt wurde, ein „Chakravartin“ oder ein Buddha zu werden, entschied er
sich explizit für den Weg des Buddha, d. h. den Weg eines
"Erleuchteten" und wies den Weg des Chakravartin,
des „Weltenherrschers“ zurück. Auch
moderne buddhokratische Weltentwürfe sind
bekannt, sie werden zum Beispiel von dem amerikanischen Tibetologen
Robert A. Thurman in seinem Buch „Revolution von
Innen“ gefordert.
Lautwein:
Dieses Ideal hat
z.B. den indischen Kaiser Ashoka dazu inspiriert,
in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit eine im großen und ganzen
humane und tolerante Politik zu treiben, die bis heute als vorbildlich
gilt. Dass das Ideal in den asiatischen Ländern aber auch für weniger edle
Zwecke instrumentalisiert wurde, lässt sich nicht bestreiten, aber das war
im Westen auch nicht anders. Mythen sind leider anfällig für Missbrauch,
sei es im Westen oder im Osten. Sollten wir daraus aber den Schluss ziehen,
dass wir ganz ohne Mythen auskommen sollten?
Trimondi:
Ja, Mythen sind anfällig für
Missbrauch, leider sind sehr viele davon schon gefährlich, wenn sie
wörtlich genommen werden. Der buddhistische Chakravartin-Mythos
war – wie wir das in unserem Buch „Hitler-Buddha-Krishna“ zeigen – sehr
attraktiv für die Intellektuellen innerhalb der SS und ebenso das Bild vom
indischen Kaiser Ashoka. Dieser wurde dort mit
der Person Hitlers in einen Zusammenhang gebracht. Solch Ideen vom
Weltenkaiser, die durch das Kalchakra-Tantra in
unser westliches Kulturgefüge eingepflanzt werden, können für totalitäre
politische Strömungen und für religiöse Fundamentalisten als Orientierung
dienen. Bisher ist in den buddhistischen Milieus des Westens noch keine
Debatte über die politisch-religiöse Rolle des Chakravartin
eröffnet worden, obgleich diese metapolitische Idee durch lamaistische
Rituale ständig beschworen wird.
Lautwein:
Schwarze Magie? - Ein weiterer
Vorwurf gegen Kalachakra und das buddhistische
Tantra lautet, dass es sich dabei um Magie handele. Hierauf ist zu
erwidern: Genau das ist es. Tantra ist Magie. Über die Definition von Magie
müsste noch ausführlicher gesprochen werden, ich will Magie vorläufig nur
grob als den Versuch definieren, die Wirklichkeit oder Welt mittels
symbolischer Handlungen, Vorstellungen und Willensakte zu beeinflussen. Wie
kommen Buddhisten dazu, Magie anzuwenden? Nach buddhistischem Verständnis
besteht die Wirklichkeit aus nichts anderem als Karma. Wir schaffen ständig
unsere Wirklichkeit, d.h. wir setzen unsere Vorstellungen in Handlungen um,
die dann das erzeugen, was wir als „Wirklichkeit" erleben. In der Tat
ist die Wirklichkeit das von uns Ge-Wirkte. Dagyab Kyabgön Rinpoche meint hierzu: „Symbole und Rituale zu benutzen
und Rituale durchzuführen bedeutet nicht, wild herumzuzaubern,
sondern energisch, aber einfühlsam mit den gegebenen Kräften und Zuständen
zu arbeiten und das bestehende Netz mit ‚möglichen' Fäden
fortzusetzen." Die karmischen Gesetzmäßigkeiten sind dadurch nicht
aufgehoben, im Gegenteil, gerade wenn man versucht, magisch zu arbeiten,
muss man sich bewusst halten, dass es auf die eigene Motivation ankommt,
und dass jede Aktion eine Reaktion erzeugt, die auf den Urheber
zurückfällt.
Trimondi:
Das ist ein Wort, um das
bisher immer herumgeredet wurde! Tantra ist Magie, daran besteht nicht der
geringste Zweifel. Das heißt auch, der Dalai Lama will mit der Durchführung
des Kalachakra-Tantra die Welt mittels
symbolischer Handlungen, Vorstellungen und Willensakte beeinflussen. Das Kalachakra-Tantra soll – wie die Buddhisten sagen –
Frieden schaffen. Aber dem widerspricht sowohl sein kriegerischer Inhalt
als auch die Tatsache, dass sich seit 30 Jahren, in denen der Dalai Lama
das Ritual außerhalb von Tibet durchführt, die Friedenssituation auf der
Erde zunehmend verschlechtert. Dem
wiederum den Prophezeiungen des Kalachakra-Tantra
entsprechen.
Lautwein:
Die Gefahr des
Missbrauchs ist groß, deswegen wurde traditionell großer Wert auf die
Reinigungspraxis gelegt, die den tantrischen Praktiken vorangehen sollte.
Dass dennoch Missbrauch vorkommt, ist nicht zu bestreiten. Es gibt Lamas,
die unter tantrische Praxis als Vorwand benutzen, Frauen ins Bett zu
kriegen, es gibt genug Tibeter, die Liebes- und Schadenszauber durchführen,
so wie wir das aus unserem Mittelalter auch kennen. Nach dem buddhistischen
Karma-Verständnis schadet sich aber nur selbst, wer tantrische Magie zu
selbstsüchtigen Zwecken missbraucht, er wird bildlich (oder vielleicht auch
real) zum Dämon.
Trimondi:
Wie außerordentlich prägend
schwarzmagische Handlungen die lamaistische Kultur Tibets bestimmt haben,
zeigt sehr ausführlich Gerhardt W. Schuster in „Das Alte Tibet –
Geheimnisse und Mysterien – St. Pölten 2000 – 108 ff.)
Lautwein:
Da in Asien der
Glaube an Wesenheiten, Geister und Dämonen aller Art, die unter Umständen
schädlich werden können, allgegenwärtig war und ist, war es für den
Buddhismus lebensnotwendig, auf diese Ängste eine Antwort zu finden. Es
gibt daher in allen buddhistischen Ländern magische Praktiken, um
Ortsgeister, Dämonen oder Landesgötter in den Buddhismus einzubinden und
friedlich zu stimmen. In Tibet war dieses Problem besonders gravierend, da
die vorbuddhistische Bön-Religion und die alten
Götter des Landes sich der Einführung des Buddhismus im 8. Jahrhundert
heftig widersetzten. Das buddhistische Tantra war als Methode, schädliche
„Energien" unter Kontrolle zu bringen und umzuwandeln, besonders
geeignet, weil es in Indien allerlei schamanistische und magische Praktiken
der altindischen Kultur integriert hatte, die von den Tibetern leicht
nachvollzogen werden konnten. So wurden in Tibet Ortsgeister und Dämonen zu
buddhistischen Schutzengeln umgewandelt (vor allem von Padmasambhava).
Trimondi:
Folglich wird durch die
Tantra Texte und Rituale der Dämonen- und Geisterglaube des Alten Tibets in
den Westen verpflanzt. Um es noch einmal deutlich zu sagen, die alten
Dämonen Indiens und Tibets wurden niemals durch die Tantriker in
buddhistische „Schutzengel“ umgewandelt. Man braucht nur einen Blick auf
ihre Ikonographie zu werfen, wo sie weiterhin als Schreckensgestalten
abgebildet sind. Sie blieben nach ihrer Konvertierung weiterhin „Dämonen“, nur dass sie jetzt nicht mehr
gegen den Buddhismus kämpften, sondern ihn mit all ihrer Grausamkeit gegen
seine Feinde verteidigten. Ihr Meister ist in der Tat der Yogi (Maha Siddha), der sie unter seine „Kontrolle gebracht“ hat.
Aber er verwandelt die Dämonen nicht, sondern setzt sie nach gusto ein
oder kommandiert sie zurück.
Lautwein:
Um es auf den Punkt zu bringen: selbstverständlich ist tantrische Magie,
wie jede Magie, Ausübung von MACHT. Es hat keinen Sinn, diesen Punkt
bestreiten zu wollen: Wenn der Dalai Lama die Kalachakra-Initiation
gibt, führt er ein Ritual durch, das die Welt beeinflussen und im
buddhistischen Sinn verändern soll.
Trimondi:
Das ist ehrlich und ohne
Verschleierung gesagt: Es geht bei den Tantra Texten und Ritualen um MACHT!
Alle Tantras beinhalten magische Techniken, um weltliche und spirituelle
Macht zu erlangen. Im Falle des Kalachakra-Tantra,
das in wesentlich von Zerstörungsszenarien gekennzeichnet ist und das als
das Tantra des dunklen Kali-Yugas, des
untergehenden Zeitalters, angesehen wird, geht es zudem um die „Macht der
Zerstörung“.
Lautwein:
Allgemein spricht man im Vajrayana von vier
Aktivitäten, die im Rahmen der tantrischen Praxis durchgeführt werden
können: befriedend, vermehrend, zähmend und unterwerfend. Die meisten
Rituale, die von tibetischen Buddhisten durchgeführt werden, sind
befriedend oder vermehrend und haben zum Ziel, die eigenen Geistesgifte zu
verringern, einen wohltätigen Einfluss auf die Umgebung auszuüben (z.B.
eine gute Ernte zu sichern), oder die Lebensspanne zu verlängern. Ziel der
zähmenden und unterwerfenden Aktivitäten kann hingegen die Bändigung
negativer Kräfte („Dämonen") sein, oder gar ihre Vernichtung, wenn es
nicht anders geht. Die Vernichtung eines anderen Wesens sollte man als
Tantriker aber nur dann in Erwägung ziehen, wenn man gleichzeitig die
Fähigkeit besitzt, das Bewusstsein des Getöteten in eine bessere
Wiedergeburt zu transferieren. „Andernfalls ist man nur ein
Schlächter", wie Padmasambhava meint.
Trimondi:
D. h. die Tötung eines
Menschen ist – unter Umständen – erlaubt, wenn damit für diesen eine
bessere Wiedergeburt garantiert wird. Ob dies der Fall ist, bestimmt der
Maha-Siddha, der erleuchtete Guru. Der XIV. Dalai
Lama schreibt in Kalachakra-Tantra -Der Einweihungsritus - Theseus Verlag 2002 auf S. 363-365: „Diejenigen aus der
Buddha-Familie des Vajra sollten zweifellos
töten; diejenigen aus der Buddha-Familie des Schwertes (sollten) die
Unwahrheit (sagen).“ (S. 363) Er kommentiert diesen Passus (364): „Solche
Aussagen lassen sich auf zweierlei Art und Weise erläutern: in einem
vorläufigen und letztgültigen Sinn. Im Guhyasamaja-Tantra zum Beispiel muss die
Aussage: ‚Wenn (du) all die So-Genannten tötest, wirst (du) die höchste vorzügliche
Verwirklichung erlangen’, auf vielfältige Weise erläutert werden. Man
spricht dabei von den sechs Methoden und den vier Möglichkeiten.“
„Vorläufig“ bedeutet hier
„real“ – „letztgültig“ bedeutet eine „innere“ letztlich „geistige“
Entsprechung. Beides (!) ist im Tantrismus immer angesprochen. So führt der
Dalai Lama unter Beziehung auf den Originaltext des Kalachakra
fort (364,365): „Hier, bei der Erklärung dieses Gelöbnisses wird gesagt,
dass diejenigen aus der Buddha-Familie des Vajra
– mit anderen Worten diejenigen aus der Buddha-Familie von Akshobhya – ‚zweifellos töten sollten’. In seiner
vorläufigen Bedeutung besagt das Folgendes: Von Mitgefühl motiviert,
könnten diejenigen aus der Buddha-Familie von Akshobhya
- unter Umständen – Menschen töten, die der Lehre Schaden zufügen
beziehungsweise die empfindende Wesen hassen und sich anschicken,
abscheuliche und unheilvolle Taten zu begehen, von denen sie mit anderen
Mitteln nicht abzuhalten sind.“
Das ist durchaus „real“
gemeint, so wie es „wörtlich“ im Original
und „wörtlich“ im Kommentar des Dalai Lamas steht und es wie es sich
ebenso aus dem Sinn und der Geschichte des Tantrismus ergibt. Tötungen aus
„Mitgefühl“ zählen im Übrigen zum buddhistischen „Ethos“ und haben vielfach
als politische Legitimation herhalten müssen. Im selben Theseus
Verlag, wo der hier zitierte Dalai
Lama Kommentar zum Kalachakra erschienen ist,
wurde auch ein Text des Buddhismusforschers
Volker Zotz veröffentlicht, der bei einem
Vergleich zwischen dem Buddhismus mit dem Nationalsozialismus zu der
Aussage kommt: „Doch konnte dies (das Mitgefühlsgebot)
in der Geschichte des Buddhismus auch immer wieder bedeuten, aus Mitleid
und Weisheit zu töten“. (Volker Zotz – Auf glückseligen Inseln – Buddhismus in
der deutschen Kultur – Theseus Berlin 2000,
224)
All das widerspricht
jedenfalls dem Bild der absoluten Gewaltlosigkeit, das der Buddhismus im
Westen verbreitet und das ihn für viele Menschen so attraktiv macht. Im
tantrischen Buddhismus geht es jedoch letztlich um viel mehr, nämlich
darum, einen Zustand jenseits von „gut“ und „böse“ zu erreichen, der es
erlaubt, schneller die Erleuchtung zu erlangen, das heißt es geht darum, zu
einem Übermenschen (Maha Siddha) zu werden.
Lautwein:
Die Frage,
welche Motivation wir dem Dalai Lama unterstellen wollen, muss sich nun
jeder selbst stellen, der nach Graz fahren will. Vielleicht hat der Dalai
Lama ja doch eine gute Motivation?
Trimondi:
Vielleicht? – Aber ein
apokalyptisches Tantra mit so vielen Ungereimtheiten, darf nicht
unhinterfragt hingenommen werden. Jeder hat ein Recht zu fragen, wenn
dieses Ritual öffentlich, in einem westlichen Land und mit der
Unterstützung von Staatsgeldern durchgeführt wird.
Lautwein:
Noch ein kurzes Wort zur sexuellen und nekrophilen
Symbolik, die uns im höchsten Yoga-Tantra begegnet. Der buddhistische
Tantrismus versucht, wie alle Tantra-Systeme, die Quelle unserer größten
Begierden und Ängste zu transformieren. Sex ist der stärkste Ausdruck von
Begierde, den wir kennen, und der Tod ist das, wovor wir am meisten Angst
haben. Mit Sex und Angst zu arbeiten, ist das Gefährlichste, was man tun
kann, wenn man die Energien, die hinter ihnen stecken, tatsächlich in den
Griff bekommt, könnte dies die schnellste Methode sein, um unsere inneren
Hindernisse zu beseitigen. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, und es ist
nichts für kleine Kinder und Menschen, die nicht fest im buddhistischen
Glauben verwurzelt sind.
Trimondi:
Jeder aus der lamaistischen
Szene weiß, dass im tibetischen Tantrismus mit realen Frauen sexualmagisch
gearbeitet wird. In zahlreichen Texten ist das nachzulesen und durch
zahlreiche Zeugenberichte ist dies belegt. Aber wenn Professoren der Tibetologie wie Alexander Berzin, Robert A. Thurman oder Ernst Steinkellner vor die Kamera der
Fernsehanstalten treten, leugnen sie die sexualmagischen Riten schlichtweg
ab und sprechen davon, dass diese nur „symbolisch“ durchgeführt würden. Das
ist eine ständig wiederholte Lüge und da die große Masse der Menschen
einfach nicht glauben will, dass der lächelnde Dalai Lama etwas mit
Sexualmagie zu schaffen hat, kann diese Lüge immer wieder erfolgreich
ausgesprochen werden, obgleich dieselben „Wissenschaftler“ in ihren Texten
und Seminaren das Gegenteil behaupten. Thomas Lautwein
ist immerhin so ehrlich, dass er die sexualmagischen Praktiken zugesteht
und auf deren eminente Gefahr hinweist.
Gerade wegen dieser Gefahr
ist es umso wichtiger, die Sexualmagie der Tantras
in all ihren Aspekten einer öffentlichen Debatte zugänglich zu machen. Das
ist heute möglich - in einer Zeit, in der Themen der Sexualität nicht mehr
tabuisiert sind. Besonders gefährlich sind die Tantras, weil die in ihnen
beschriebenen sexualmagischen Riten auch von Kreisen praktiziert werden,
die dem harten Kern des religiösen Faschismus angehören und die nicht davor
zurückschrecken, Menschenopfer, insbesondere von Frauen, zu fordern. Dass
sie dabei die entsprechenden Originaltexte der
Tantras nicht uminterpretieren müssen, sondern wörtlich nehmen können,
macht diese östlichen Religionssysteme umso problematischer.
Nach unserer sehr
detaillierten Analyse der Riten haben wir den Schluss vieler bedeutender
Forscher wie Helmut von Glasenapp, David Snellgrove, Alex Wayman und
anderen bestätigt gefunden, dass es bei den buddhistischen Tantras um das
Aufsaugen der weiblichen Energie (Gynergie) durch
den Yogi geht. Die Tantras sind in ihrer traditionellen Form extrem
sexistisch.
Lautwein:
(aus diesem
Grund kann ich die Erklärung von Bischof Capellari,
ein gläubiger Christ könne an der Kalachakra-Einweihung
nicht teilnehmen, gut verstehen. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass ein
gläubiger Christ mit der tantrischen Methode nichts anfangen kann).
Trimondi:
Es gibt aber eine ganze
Anzahl von Buddhisten, die sich mit Empörung über die Entscheidung des
Grazer Bischofs aufgeregt haben, und die liberale Presse hat diese
Aufregung mitgespielt.
Lautwein:
Wir können auch
feststellen, dass die sexuelle und Todessymbolik, die wir im buddhistischen
Tantra antreffen, in allen Kulturen existiert. Offensichtlich gibt es
spirituelle Erfahrungen, die man notgedrungen nicht anders ausdrücken kann,
als in einer Symbolik, die auf den ersten Blick obszön erscheint. Auch hier
kann ich nicht ins Detail gehen, aber wer sich z.B. näher mit der Kabbalah befasst hat, weiß, dass etwa bei der
Meditation über die Sephiroth Binah
und Chochmah eine sexuelle Symbolik auftritt, die
der tantrischen an Krassheit in nichts nachsteht.
Trimondi:
Die Tantras sind obszön bis
zum äußersten Exzess. Sie wollen dies auch sein und nicht nur so scheinen.
Ihre Obszönität wird nicht dadurch aufgehoben, dass der Tantra-Meister in
dieser perversen Welt letztendlich die Kontrolle behält. Das macht die
Sache im Kern noch schlimmer, da sich die obszönen Szenen ohne innere seelische
Beteiligung, d. h. auch ohne jegliche Skrupel abspielen müssen. Potenziert
werden diese Vorgänge noch durch die enge Verbindung von Sexualität mit morbiden Szenarien, eine Mischung,
die man gemeinhin als „Nekrophilie“ bezeichnet und auf die wir in der
tantrischen Kultur immer wieder stoßen.
Lautwein:
Abschließend
will ich aber nicht verhehlen, dass auch ich einige Bedenken in Betreff auf
das buddhistische Tantra habe.
Trimondi:
Sehr gut! Der tibetische
Tantrismus sollte als spirituelle Disziplin abgeschafft werden und der XIV.
Dalai Lama sollte das Kalachakra-Tantra endgültig
verbieten, damit wir seine Friedens- und Toleranzaufforderungen ernst
nehmen können.
Lautwein:
Aus dem bisher
Gesagten dürfte deutlich geworden sein, ein wie anspruchsvoller und heikler
Weg der Diamantweg ist, und es dürfte klar sein, dass er nur für wenige
geeignet ist. Dennoch geben tibetische Lamas überall im Westen häufig
tantrische Einweihungen, bei denen man davon ausgehen kann, dass ein Gutteil
der Teilnehmer an solchen Veranstaltungen komplett überfordert ist.
Trimondi:
Danke, Herr Lautwein! Das ist sehr mutig ausgesprochen.
Lautwein:
Tibetische Lamas
sind auch oft nicht in der Lage, die Fragen und Probleme ihrer westlichen
Schüler nachzuvollziehen, weil der kulturelle Hintergrund ein anderer ist.
Ein Paradebeispiel für einen westlichen Schüler, der völlig hilflos in den
tibetischen Buddhismus hineingeriet, der in seinen neurotischen und
abergläubischen Vorstellungen sogar nur bestärkt wurde, bis er sich am
Schluss nicht anders befreien konnte, als zum Christentum zurückzukehren,
ist übrigens Martin Kamphuis, der heute als
„Buddhismus-Experte" und Warner vor der üblen „Tantra-Magie" des
Dalai Lama auftritt. Sein Lebensbericht „Ich war Buddhist" ist ein
Paradebeispiel dafür, was man als Westler am tibetischen Buddhismus alles
missverstehen kann, und wie man an seinen eigenen Neurosen scheitern kann.
Trimondi:
Der Lebensweg Martin Kamphuis ist – wie immer man zu seinen Anschauungen
stehen mag – ein Fallbeispiel für die Neurosen, die durch die
Tantra-Praktiken hervorgerufen werden können. Wir kennen eine Anzahl von
Fällen, welche dem von Kamphuis mehr oder weniger
ähneln, ja zum Teil viel gravierender sind. Man sollte seine Darlegungen
sehr ernst nehmen, auch wenn man nicht den von ihm gewählten christlichen
Weg einschlagen möchte. Die starke Orientierung am Christentum hat ihm
wahrscheinlich erst die Möglichkeit gegeben, aus der „tantrischen Falle“ zu
fliehen.
Lautwein:
So wird auch die
Kalachakra-Einweihung in Graz für die meisten
Teilnehmer wohl eher ein „Event" sein, das wenig bleibende Eindrücke
hinterlassen wird. Ob das buddhistische Tantra auf Dauer im Westen heimisch
werden wird, ist unklar, und eine Frage, die innerhalb der
tibetisch-buddhistischen Szene in den nächsten Jahrzehnten noch diskutiert
werden muss, wird sein, ob wir als westliche Menschen nicht unseren eigenen
Zugang zum Vajrayana suchen müssen.
Trimondi:
Sehr interessant: Herr Lautwein stellt die Frage nach einem westlichen
Buddhismus. Ob es so etwas überhaupt geben kann, dafür ist es
Voraussetzung, dass es eine öffentliche Debatte ohne Tabus gibt. Herr Lautwein hat hier einen wichtigen Anfang gemacht.
Lautwein:
Eines aber
können wir in der Zwischenzeit von Buddhisten und Nicht-Buddhisten
verlangen: Fairness und Verbreitung von korrekten Informationen. Bei Victor
und Victoria Trimondi ist dies leider nicht
gegeben.
Trimondi:
Vielleicht doch – wenn man
mit uns diskutiert hätte. Zum Abschluss möchten wir eine Email abdrucken,
die uns vor wenigen Tagen zugeschickt wurde. „Hallo, mit Spannung bin ich jetzt bei den
letzten Seiten Ihres D.L.- Buches angelangt. Als ehemaliger
[buddhistischer Aktivist] war ich anfänglich wie vor den Kopf gestoßen, ob
der massiven Kritik, die unerbittlich das alte, wenn auch schon etwas
kränkelnde tibetisch/buddhistische Weltbild zerstörte. Meines Erachtens
handelt es sich bei den äußerst scharfen Reaktionen aus tibetisch/buddhistischen Kreisen, -
die meisten mir bekannten Stellungnahmen sind geradezu auffällig mit
Verleumdung und Diffamierung gespickt - um ähnliche geartete
Abwehrreaktionen, wie sie automatisch in mir während der Lektüre abliefen.
Die Reaktionen fallen natürlich umso schärfer und aggressiver aus, je
tiefer man mit dem Kritisierten (noch) identifiziert ist. Mit allen Mitteln
muss das verinnerlichte Weltbild - der Fixpunkt in einem ansonsten
haltlosen Universum erhalten werden, sonst droht der endgültige Verlust des
Selbst etc. Da von buddhistischer Seite traditionell ebenfalls das
Selbstbild attackiert und auf Hinterfragung und sogar Auflösung desselben
hingearbeitet wird, könnte man die Lektüre Ihres Buches als ziemlich
fortgeschrittene Bewusstseinstechnik empfehlen. Mein Glückwunsch zu der
grandiosen Darstellung Ihrer Sicht der Zusammenhänge!“
Lautwein:
Fußnoten:
(1) Folgende
Definition scheint mir brauchbar: „Bezeichnung für besondere Kräfte von
Gegenständen, Wesen- und Gottheiten und die Formen, über diese Kräfte zu
verfügen. Die Kräfte wirken nicht aus sich heraus, sondern werden erst
durch Rituale, bestimmte Handlungen, die Verwendung von Symbolen oder
Gebete aktiviert. Die Anwendung bestimmter Techniken führt immer zur
entsprechenden Wirkung der magischen Kraft. Magische Elemente spielen in
allen Religionen eine Rolle, wenn auch - vor allem bei monotheistischen
Religionen - die Vorstellung der direkten Beeinflussbarkeit der Gottheit zu
Gunsten der Unabhängigkeit ihres Wirkens zurückgetreten ist." (Harenberg Lexikon der Religionen, Dortmund 2002, S.
975).(2) L.S. Dagyab Rinpoche:
Buddhistische Glückssymbole. München 1992.
(3) S. hierzu Martin J. Boord: A Bolt of Lightning from the Blue. The vast
commentary on Vajrakila. Berlin 2002.
(4) „If one does not know the rites of elevating to a higher plane, one
will be merely a butcher." (Boord; Bolt of lightning, S. 281).
Nota bene:
die obenstehenden Ausführungen sind meine private Meinung und entsprechen
nicht der offiziellen Parteilinie von Chödzong
e.V.
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