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Victor und Victoria Trimondi

 

Kommentiertes Resümee des Stern Artikels vom 30. 07. 2009

 

Die zwei Gesichter des Dalai Lama

Der sanfte Tibeter und sein undemokratisches System

 

Im Juli 2009 veröffentlichte der deutsche Stern Magazin als Titelstory einen Artikel über den XIV. Dalai Lama verfasst von den Stern Reportern Tilman Müller und Janis Vougioukas. Das Cover zeigt den etwas skeptisch dreinschauenden Religionsführer unter den dicken Buchstaben eines herausfordernden Titels: „Die zwei Gesichter des Dalai Lama – Der sanfte Tibeter und sein undemokratisches System.“ Dieses Heft soll eine der höchsten Verkaufsauflagen einer Juli/August-Nummern gewesen sein. Allein das zeigt wie groß das Interesse der Leserinnen und Leser an einem Thema war, welches für viele völlig überraschend gewesen sein muss, gilt doch der Dalai Lama im Westen geradezu als eine Ikone und wird der tibetische Buddhismus als eine Friedensalternative zu den monotheistischen Religionen wahrgenommen.  Der Stern Artikel ist in gewisser Weise eine freudige Genugtuung nicht nur für uns, da alle von ihm angeführten Punkten die umfangreichen Recherchen, die wir schon seit 1998 vorgelegt haben aufgreift und bestätigt, sondern auch für viele um Aufklärung, offenen Diskurs und korrekte Geschichtswiedergabe bemühte Geister, die sich gegen den Strom der blinden Tibet-, Dalai Lama- und Lamaismus-Mythisierung stellen. Wir werden deswegen im Laufe unseres kommentierten Resümees Vergleiche mit Inhalten aus unseren Büchern Der Schatten des Dalai Lama – Sexualität, Magie und Politik im tibetischen Buddhismus (Patmos Verlag 1998), Hitler Buddha Krishna – eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis heute (Ueberreuter Verlag 2002) und aus unserem Trimondi Online Magazin machen sowie auf Webseiten und Literatur anderer Autoren und Autorinnen hinweisen, (die wir im Text wegen einer besseren optischen und inhaltlichen Klarheit in gesonderten Textparagraphen unter Trimondi Kommentar dem Leser präsentieren werden), um so die Ausführungen des Stern Artikels zu vertiefen und zu dokumentieren. Denn die Enthüllungen von Tilman Müller und Janis Vougioukas sind, auch wenn für Fachkreise nicht neu, unter Exiltibetern und Anhängern des „lächelnden Mönchs aus dem Himalaya“ als Provokation verstanden worden, was dem Magazin einige Protestschreiben bescherte. Allerdings folgten auf die Stern „Provokation“ von tibetischer Seite erneuernde politische Konsequenzen, wie wir zum Schluss zeigen werden.  

 

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Schon das Editorial des damaligen Chefredakteurs Thomas Osterkorn unter der Überschrift Die dunkle Seite des Dalai Lama macht den Lesern und Leserinnen klar, dass man diesmal nicht die üblichen Dalai Lama Tibet Klischees ausbreiten will. Osterkorn erzählt, wie das tibetische Oberhaupt wieder einmal Deutschland besucht und dass er als der „beliebteste Mensch der Welt“ und als „Popstar der Erleuchtung“ verehrt werde. Millionen „Sinnsuchende aus allen Kontinenten“ würden in ihm eine „Projektionsfläche“ sehen. Er betont auch, dass der Stern schon seit Jahren  wohlwollend über das tibetische Oberhaupt und das schwere Los seines Volkes berichtet und schon 1978 zur Spendenaktion für Flüchtlingskinder aufgerufen hatte, dass die von den Chinesen unterdrückte tibetische Minderheit unsere Anteilnahme verdiene, aber „Solidarität darf den Blick auf Probleme nicht verstellen.“ – schreibt Osterkorn und fährt fort: „In unserer Titelgeschichte über die ‚Lichtgestalt mit Schattenseiten‘ beleuchten wir nun die im Westen kaum bekannten dunklen Facetten des Systems Dalai Lama, der im indischen Exil nicht gerade demokratisch regiert. Dort müssen kritische Zeitungen schließen, und andersgläubige Mönche fürchten sich vor Repressionen.“ 

 

Weiter erzählt der Chefredakteur wie der Mitautor der Reportage Janis Vougiuokas der nach Dharamsala gefahren sei um dort Interviews zu führen von den Gästen angestarrt worden sei, als er in einem Café ein kritisches Buch über den Dalai Lama las. Osterkorn fasst die Recherchen seiner beiden Redakteure wie folgt zusammen: „In Dharamsala wagt kaum jemand ein offenes Wort über den Gottkönig, den die meisten Tibeter als ihr unfehlbares Oberhaupt sehen. Doch hinter vorgehaltener Hand äußern inzwischen viele ihre Unzufriedenheit.”

 

Trimondi Kommentar: Als Thomas Osterkorn auf den zweiten Reporter Tilman Müller zu sprechen kommt, sagt er lobend, Müller komme das Verdienst zu, als erster aufgedeckt zu haben, dass der enge Dalai Lama Freund, der Bergsteiger Heinrich Harrer, Autor des Weltbestsellers Sieben Jahre in Tibet, während der NS-Zeit SS-Oberscharführer war und dass diese Entdeckung im Stern zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Diese Behauptung Osterkorns ist allerdings so nicht ganz korrekt. Die Investigationsarbeiten im Fall Harrer und die eigentliche Entdeckung von der Nazi Vergangenheit des Bergsteigers wurden mit viel Mühen und Aufwand von dem österreichischen Journalisten Gerald Lehner schon lange vor dem Erscheinen des Harrer Artikels  im Stern durchgeführt und dann im Mai 1997 im Stern unter dem Titel „Ein Held mit braunen Flecken“ in Co-Autorenschaft zwischen Gerald Lehner und Tilman Müller publiziert. 2007 fasste Lehner seine Jahre langen Recherchen zum Fall Harrer in dem Buch Zwischen Hitler und Himalaya. Die Gedächtnislücken des Heinrich Harrer zusammen, das noch ausführlicher die Beziehungen des Dalai Lama zu dem NS-Idol von seiner Jugend an bis zu Harrers Tod im Jahre 2006 schildert. (Siehe hierzu den Trimondi Artikel: Der SS-Mann und Bergsteiger Heinrich Harrer – Mentor des Dalai Lama) Am Ende seines Editorials kommt Osterkorn dann zu dem Schluss: „Der ‚Ozean der Weisheit‘, so die Übersetzung für Dalai Lama, hat ganz offenkundig auch ein paar Untiefen.“ (siehe Originaltext des Stern Editorials: Die dunkle Seite des Dalai Lama).

 

Und nun zum eigentlichen Stern Artikel. Dieser beginnt mit der Überschrift. „Lichtgestalt mit Schattenseiten – Bei seinem Besuch in Deutschland diese Woche wird der Dalai Lama wieder als Heilsbringer umjubelt. Das Oberhaupt der Tibeter gilt als Symbol der Toleranz. Doch Kritiker aus seiner Exilgemeinde fordern vergebens Religionsfreiheit und Demokratie.“ Am Anfang ihrer Story schildern die beiden Stern Reportern Müller und Vougioukas wie der Dalai Lama mit großem Pomp „wie ein Staatspräsident“ mit einer Wagenkolonne seine Besuche inszeniert, umgeben von Bodyguards. Prominente aus Film und Wirtschaft „stehen huldvoll Spalier“. Politiker eilen herbei, um ihre Ehrerbietung zu demonstrieren. Lächelnd winkt der Religionsführer den Umstehenden zu. Doch während er in Nürnberg im Rathaussaal eine kurze Rede hielt, da sei den Anwesenden der Atem ausgeblieben als er seinem Publikum berichtete wie er als Kind, „sehr attraktive“ Bilder gesehen habe, mit „Generälen und ihren Waffen“, mit „Adolf Hitler und Hermann Göring“. Einige der Nürnberger Zuschauer seien „peinlich berührt“ und andere „kurzeitig befremdet“ gewesen. Der Oberbürgermeister von Nürnberg sprach von einer „Schrecksekunde“. Später berief sich der Ozean der Weisheit darauf, als Kind habe er unmöglich voraussehen können, was die Nazis alles anstellen würden. Mit Recht kommentieren an dieser Stelle die beiden Stern Reporter, wenn sich ein Papst in der geheimen Hauptstadt des Nazi-Reiches einen derartigen Schnitzer erlaubt hätte, „wäre ein Aufschrei durch die Republik gegangen.“

 

Dem Dalai Lama habe man aber sofort seine Entgleisungen verziehen, obgleich er immer wieder mit alten Nazis aufgetreten sei, an erster Stelle mit Heinrich Harrer. Die Beziehung des tibetischen Hofstaates zum Nazi-Regime reicht zurück in die Zeit als der Dalai Lama noch ein vier jähriges Kind war. „SS-Expeditionen wurden in Lhasa mit allen Ehrenbezeigungen empfangen. Von diesen unrühmlichen Beziehungen hat sich Seine Heiligkeit bis heute nicht klar distanziert. Und das ist nicht das einzige dunkle Kapitel seiner Erfolgsgeschichte.“ –konstatieren Tilman Müller und Janis Vougioukas.

 

Trimondi Kommentar: Mit den vielfachen Kontakten der Tibeter zu den Nationalsozialisten setzen wir uns ausführlich in dem Artikel Deutsche Hakenkreuze im Himalaja – Die SS-Tibetexpedition und ihre Protagonisten auseinander. Dabei handelt es sich um ein Kapitel aus unserem 2002 erschienenen Buch Hitler Buddha Krishna. Dort werden auch die Beziehungen des Dalai Lama zu dem Rassenspezialisten Bruno Beger von der SS-Tibetexpedition und zu dem chilenischen Diplomaten, Esoteriker und Hitler-Fanatiker Miguel Serrano untersucht, die beide kurz in der Stern Reportage Erwähnung finden.

 

Als Gründe, weshalb dem Dalai Lama seine dubiosen NS-Kontakte nicht angekreidet werden, nennen die Stern Redakteure: Er genieße „geradezu gottgleiche Verehrung“, er sei eine „Über-Ikone der Neuzeit“, obgleich er „am Himalaya wie ein mittelalterlicher Potentat“ regiere. Verehrt werde er wie „ein Popstar“. Der Stern habe ihn in einer früheren Reportage als „Der Heilige auf dem Berg“ gepriesen, der Spiegel schwärmte von einem „Gott zum Anfassen“. Er sei ein „sanftmütiger Gutmensch“ mit „erstaunlich intoleranten, ja diktatorischen Zügen“, so weiter Müller und Vougioukas.

 

Trimondi Kommentar: 2007 haben wir unter dem Titel Der-Eskapismus-der-Gutmenschen in der Tageszeitung Die Welt einen Artikel veröffentlicht, den wir mit den folgenden Sätzen einleiteten: „Der Dalai Lama ist zur Popkulturfigur des Westens geworden. Mit einer Mischung aus Ignoranz und Treuherzigkeit wird er besonders in Deutschland geradezu angebetet. Eine kritische Betrachtung des Buddhismus kommt dabei zu kurz.“

 

Zehntausende, so Müller und Vougiuokas, strömten zu seinen Veranstaltungen, für die sie Tickets von 10 bis 230 Euro zahlten. Dann liest man Bekenntnisse von Zuhörern und Zuhörerinnen, die sich von der „Aura“ des tibetischen Priesterkönigs verzaubern ließen. „Gerade dort, wo der Geist der Aufklärung seine Wurzeln hat, in Europa und in den USA, rief der buddhistische Heilsbringer neue Hochburgen seiner Religion ins Leben. Auch in der Generation der 68er, die sich stets besonders kritisch gab, findet er Anklang.“ – schreiben die Reporter.

 

Trimondi Kommentar: Diesen Satz können wir authentisch bestätigen, da wir als ehemalige 68er, Verleger und Kongressveranstalter dem Dalai Lama in Deutschland und Österreich durch Publikationen von ihm und über ihn in unserem damaligen Dianus-Trikont-Verlag so wie durch mehrere Einladungen zu Großveranstaltungen und Kongressen, viele Türen geöffnet haben. Und das zu einer Zeit wo er beim gesellschaftlichen Establishment des Westens und in den Medien noch keineswegs so populär war wie heute, sondern auf dieselbe Stufe gestellt wurde wie der skeptisch angesehene indische Sekten-Guru Bhagwan (Osho).

 

Auch der Stern Artikel spricht davon: Als der spirituelle Popstar im Juni 1979 am Mont Pèlerin nahe dem Genfer See, die erste größere öffentliche Unterweisung in Europa abhielt, kümmerte das kaum einen. „Das Interesse am Dalai Lama war eher gering, wir konnten nicht einmal Polizeischutz für ihn bekommen.“ – erinnert sich einer der Organisatoren von damals.

  

Weshalb ist der Buddhismus im Westen so attraktiv? fragen Müller und Vougiuokas und bringen die Schlagworte „Wellness-Religion“, vorgebliche „Gelassenheit im Konkurrenzkampf“, „Tibet-Romantik“, „Verklärung des Schneelandes“. Dazu hat die amerikanische Traumfabrik nicht wenig beigetragen wie der Asien-Experte Orville Schell in seinem Buch Virtual Tibet: Searching for Shangri-La from the Himalayas to Hollywood berichtet. Er wird in dem Stern Artikel mit folgendem Satz zitiert: „Weil Tibet immer so unzugänglich war, existierte es in der westlichen Vorstellung eher als Traum denn als Realität - ein Land, auf das wir unsere postmodernen Sehnsüchte projizieren konnten.“

 

Was ist das Geheimnis, weshalb der Priesterkönig aus dem Himalaya von so vielen Menschen wie ein Heiliger angehimmelt wird, rätseln die Stern Autoren weiter und lassen den Dalai Lama selber sein Enigma lüften: „Ich bin für Sie, was Sie wollen, dass ich für Sie bin.“ Und so wird für den Bergsteiger Reinhold Messner der Dalai Lama ein „Kämpfer für den Umweltschutz“. Schauspielerin Uma Thurman, Tochter von Robert Thurman, dem Sprachrohr des Dalai Lama in den USA, meint zu ihrem bluttriefenden Gewaltfilm Kill Bill: „Der Dalai Lama würde sich totlachen“ - wenn er den Streifen ansähe. Müller und Vougiuokas sind erstaunt darüber, wie selbst George W. Bush in der Nähe des Dalai Lama friedfertig erscheine und wie in dessen Anwesenheit der kribbelige Nicolas Sarkozy sanft werde.

 

Trimondi Kommentar: Ob rechts oder links, ob  grün, rot oder schwarz, ob Demokrat oder Republikaner, ob Jörg Haider oder Joschka Fischer, ob Roland Koch oder Claudia Roth, alle fühlen sich gerührt und berührt, wenn der „einfache Mönch“ wie so häufig, bei den Begegnungen zart ihre Hand streichelt. Die beiden Stern Autoren haben keine Erklärung für diese Ergriffenheit, jedenfalls hat das  nichts mit „Realität“ zu tun, sondern zählt zu der Welt der Träume und Selbsttäuschungen. Man mag es Charisma nennen. Seit einiger Zeit macht jedoch ein Begriff die Runde, der vielleicht hilft, das Phänomen besser begreiflich zu machen. Er kommt nicht aus dem religiösen Raum, sondern aus dem Milieu der Neuen Technologien und nennt sich Reality_Distortion_Field. In fast allen Biographien des Apple-Gründers Steve Jobs liest man davon. Ein  Softwareentwickler bei Apple erläuterte, was darunter zu verstehen ist: „Steve hat ein Reality Distortion Field. In seiner Gegenwart wird die Wirklichkeit formbar. Er kann jeden von praktisch allem überzeugen.“ Nebenbei gemerkt, hatte Jobs, der selber praktizierender Zen Buddhist war und der aus der amerikanischen Counter Culture Bewegung kam, diese Technik der Realitätsverzerrung bei den indischen Gurus gelernt. Es gibt bestimmte mentale und suggestive Techniken, mit denen ein solches Feld produziert wird. Auch der Dalai Lama kann ein Reality Distortion Field hervorrufen und damit sein Umfeld in der eigenen Wahrnehmung der Realität beeinflussen.

 

Zurück zu dem Stern Artikel. Tilman Müller und Janis Vougiuokas berichten ausführlich über den Shugden-Konflikt. Die „Shugden“ sind eine Jahrhunderte alte lamaistischen Schulrichtung, die mit dem Dalai Lama seit Mitte der 90er Jahre auf Kriegsfuß steht. Die Stern Reporter haben einige wichtige Shugden-Anhänger interviewt. Es ist von Machtkämpfen, Intrigen, Rufmorden und Einschüchterungen die Rede.

 

Dorje Shugden“ nennt sich eine tibetische Orakel Schutzgottheit die im Zentrum des Shugden Kultes steht und deren Verehrung der Dalai Lama, obgleich  selber früher in dem Kult initiiert, seit über 25 Jahre strikt verbietet, weil Prophezeiungen zu Folge, sein Leben aus dem Milieu dieser Gottheit bedroht sei. Die Stern Autoren erwähnen auch die Konkurrenz  dieser Gottheit mit dem Staatsorakel des Dalai Lama, ebenfalls eine Gottheit mit dem Namen Pehar. (Wir haben in unserem Buch Der Schatten des Dalai Lama (engl. Edition) und in dem Artikel Krieg der Orakel-Götter diesen absonderlichen Streit, der an Szenen aus einem Fantasy Film erinnert,  detailliert untersucht). Seit Jahrhunderten werden die Dalai Lamas in religiösen und politischen Entscheidungsfragen von ihrem Orakel beraten. Auch der heutige Dalai Lama nimmt die Prophezeiungen, die ein in Trance versetzter Mönch mit einer 40 Kilo schweres Ritualkrone auf dem Kopf in einer Sakralsprache und mit Schaum vor dem Mund kundtut. Er habe rückblickend festgestellt, „dass das Orakel noch immer recht hatte“, sagt der Dalai Lama in einer seiner Autobiographien. Lakonisch kommentieren beiden Stern Reporter dieses Statement mit dem Satz „Demokratie sieht anders aus.“

 

Die Shugden-Anhänger werden pauschal als Kollaborateure der Chinesen angesehen, heißt es weiter in dem Artikel. Auch das erscheint den Stern Autoren als undemokratisch: „Diese Strategie - wer nicht für mich ist, ist gegen mich oder steht gar auf Seiten meiner Todfeinde - und der rigide Ton passen so gar nicht zur sanften Art, mit der sich der Übervater im Westen sonst präsentiert.“ Für viele Tibeter sei „das Verbot unverständlich; für Außenstehende ist kaum zu begreifen, mit welcher Unerbittlichkeit es durchgesetzt wird.“ – schreiben sie weiter. Man könne den Shugden-Konflikt jedoch keinesfalls als ein reines Randproblem abtun. Vor dem Bannspruch des Dalai Lama hätte ein Drittel der 130 000 Exiltibeter dem Kult angehört. 

 

Der Journalist Beat Regli zeigte erstmals 1998 im Schweizer Fernsehen eine Dokumentation über den Bruderzwist zwischen Dalai Lama und Dorje Shugden mit bewegenden Szenen, die man sich in vier Folgen auf You Tube ansehen kann. Alte Mönche brechen unter dem Druck der Verfolgungen in Tränen aus, einem Shugden-Anhänger wurde das Haus in Brand gesteckt, ihre Geschäfte werden von den Dalai Lama Anhängern boykottiert. Es geht ein tiefer Riss durch die exiltibetische Community, den der Westen nicht wahrnehmen will, obgleich die Shugden-Anhänger bei Dalai Lama Auftritten in Amerika und Europa seit Jahren lautstark demonstrieren und dabei immer ein Schild hochhalten, auf dem geschrieben steht: „Dalai Lama, hör auf zu lügen“. Mittlerweile haben sie auf ihrer Website Dorje Shugden eine große Menge an stichhaltigem Material zusammengetragen, dass den autokratischen Regierungsstil in Dharamsala, wo der Dalai Lama seine Residenz hat, sehr deutlich erkennen lässt.

 

Nach einer Milieu-Schilderung von Little Lhasa, wie Dharamsala genannt wird, kommt der Stern Artikel auf die Politik des Dalai Lama zu sprechen. Das exiltibetische Parlament habe 43 bis 46 Abgeordnete und noch nie sei dort seit mehreren Jahrzehnten eine Entscheidung getroffen worden, die sich gegen den Dalai Lama richtete. „Alle haben großes Vertrauen in Seine Heiligkeit.“ – bekannte der Parlamentspräsident Penpa Tsering. Von Beginn der exiltibetischen Regierung an wurden wichtige politische Posten von Familienmitgliedern des Dalai Lama besetzt. „Die politische Struktur in Little Lhasa ist vor allem darauf ausgelegt, die Entscheidungen des Dalai Lama zu bestätigen und seine Macht zu festigen. Parteien spielen keine Rolle. Eine Trennung von Staat und Kirche sieht die Charta der Exiltibeter nicht vor, obwohl sie sich mit wohlgesetzten Worten zu den ‚Idealen der Demokratie‘ bekennt.“ – schreiben Tilman Müller und Janis Vougioukas und bringen weitere Beispiele für die repressive Realpolitik des Dalai Lama. Zum Beispiel das de facto Verbot der unabhängigen tibetischen Zeitung Mang-Tso (Demokratie). Anlass hierfür war ein Artikel über den japanischen Doomsday- Guru Shoko Asahara, den der Dalai Lama noch nach seinen Terror-Gift Anschlägen in Tokio bei denen mehrere hundert Menschen starben und zahlreiche verletzt wurden als einen „Freund, wenn auch nicht einen vollkommenen“ bezeichnete. Erst später nach kritischen Berichterstattungen in den westlichen Medien distanzierte er sich von ihm.

 

Erwähnung findet in dem Stern Artikel auch die mittelalterliche vom Despotismus gekennzeichnete soziale Realität im alten Tibet. Aufgezählt werden die absolute Herrschaft einer Elite aus Mönchen und Adeligen, Sklaverei, Leibeigenschaft und Schuldknechtschaft. Eine brutale Mönchspolizei garantierte die Aufrechterhaltung der monastischen Diktatur. Die Klöster hatten eigene Gefängniszellen. Müller und Vougioukas zitieren Heinrich Harrer aus seinem Buch Sieben Jahre Tibet: „Die Herrschaft der Mönche in Tibet ist einmalig und lässt sich nur mit einer strengen Diktatur vergleichen. Misstrauisch wachen sie über jeden Einfluss von außen, der ihre Macht gefährden  könnte. Sie sind selbst klug genug, nicht an die Unbegrenztheit ihrer Kräfte zu glauben, würden aber jeden bestrafen, der Zweifel in dieser Richtung äußerte.“ – schreibt der „Freund des Dalai Lama“ und erzählt von einem Mann, der eine goldene Butterlampe aus einem Tempel entwendet hatte. Zuerst schlug man ihm öffentlich die Hände ab. Dann wurde „sein verstümmelter Körper lebend in eine nasse Yakhaut eingenäht. Man ließ die Haut trocknen und warf ihn in die tiefste Schlucht.“

 

Trimondi Kommentar: Die eklatanten sozialen Ungerechtigkeiten im Alten Tibet sind mittlerweile durch ein kaum überschaubares historisches Material der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, so dass selbst die Exiltibeter und der Dalai Lama heute nicht mehr das seit den 70er Jahren manipulativ gepflegte Bild von Tibet als einem Paradies auf Erden (Shangri-La) verbreiten. Wir selber haben noch erlebt wie einer der Brüder des Dalai Lama und der amerikanische Tibetologe, Dalai Lama Schüler und Leiter des Tibet Hauses in New York  Robert A. E. Thurman auf der internationalen Tibet Konferenz „Mythos Tibet“ 1997 in Bonn vor einem großen Publikum unverblümt behaupteten, dass das Alte  Tibet sogar das Idealmodell für eine zukünftige Weltgesellschaft hergebe und daher insbesondere im Westen ein kultureller Paradigmenwechsel nach tibetischem Vorbild notwendig sei. Auch in seinem Buch Inner Revolution: Life, Liberty and the Pursuit of Real Happiness (1998) vertritt Thurman diese Ansichten. 2008 veröffentlichte er das Buch Why the Dalai Lama Matters, wo er den Religionsführer als Vorbild und als Adviser für Präsidenten, Könige, Gouverneure und Bürgermeister preist. Die Liste solcher haarsträubenden Selbstmythisierungen ist lang. Als wir 1998 im Der Schatten des Dalai Lama insbesondere in dem  Kapitel Soziale Realität im alten Tibet unseren Beitrag zur kritischen Aufarbeitung der Geschichte dieses Landes und des Lamaismus geleistet hatten, wurden wir von vielen Tibet Dalai Lama Fans der Lüge bezichtigt, als Renegaten beschimpft oder als China Agenten verleumdet. Ein „Image“ begleitet von einem ungewöhnlich scharfen feindseligen Gegenwind der Empörung mit dem Kritiker des Lamaismus und des Dalai Lama Systems, egal welcher Nationalität sie sind, stets konfrontiert werden. Aber die historischen Fakten lassen sich nicht mehr retuschieren. Inzwischen sind Dinge ans Tageslicht gekommen, die sogar uns noch erstaunt haben. Zum Beispiel die erschreckend häufige Verbreitung von rituell-religiösen Menschenopfern in Tibet von Beginn an bis hinein ins 20. Jahrhundert. (Siehe dazu: den Tibetologen Jacob P. Dalton Taming of the Demons: Violence and Liberation in Tibetan Buddhism Yale University Press, 2011) Angesichts der abstoßenden und zutiefst unmenschlichen Zustände unter der Herrschaft der lamaistischen Buddhokratie ist die Glorifizierung des Schneelandes eines der merkwürdigsten Phänomene westlicher Wahrnehmung überhaupt. Obgleich die Tibetologie und Geschichtswissenschaft aus der Zeit bevor zahlreiche Anhänger des XIV. Dalai Lama die universitären Lehrstühle der Orientalistik in Europa und Amerika besetzten sehr klar und ausführlich auf die problematischen religiösen und gesellschaftspolitischen Felder des Mönchsstaates im Himalaya aufmerksam gemacht haben (zum Beispiel David Snellgrove, Indo-Tibetan Buddhism, Indian Buddhist and their Tibetan Successor 1987, Melvyn C Goldstein A History of Modern Tibet 1913–1951: The Demise of the Lamaist State 1989, A. Tom Grundfeld, The Making of Modern Tibet, New York, 1996 und andere), begannen vom Buddhismus faszinierte „Wissenschaftler“ und Publizisten die Tatsachen zu verdrehen und bauten ein neue verklärten Tibet-Dalai-Lama-Lamaismus-Mythos auf, welches mit „akademischer Absegnung“ der Hollywood Walt-Disney-Comic-Traumfabrik Konkurrenz zu machen begann. Erst in jüngster Zeit und nicht zuletzt unter dem Druck zunehmender Kritik, änderte sich die Publikationsstrategie der Dalai Lama Anhänger in die folgende Richtung: das Alte Tibet war schlecht, aber der Lamaismus, der Dalai Lama und das von ihm prophezeite Neue Tibet sind gut. Übersehen und kaschiert wird aber bei den einstigen unkritischen Apologeten und jetzt sich neu definierenden „Kritikern“, dass das Alte Tibet nicht deswegen „schlecht“ war, weil der soziale Fortschritt und die Aufklärung das Land noch nicht erreicht hatten, sondern weil die gesellschaftliche Lage die konsequente Folge der religiösen Grundlagen des lamaistischen Systems war und ist. Und diese sind im Exil dieselben geblieben. Einschneidende Reformen in der Doktrin und im Ritualwesen hat es nicht gegeben.

 

Ein weiterer Punkt, der in dem Stern Artikel erwähnt wird, sind die engen Kontakte des XIV. Dalai Lama zum amerikanischen Geheimdienst CIA. Die beiden älteren Brüder des Religionsführers hatten die Beziehungen zu den Amerikanern aufgebaut. Eine Guerilla aus tibetischen Freiheitskämpfern wurde in den USA ausgebildet, Einheiten davon später nach Tibet eingeflogen und mit Fallschirmen abgesetzt: „Die tibetischen Agenten schützten den Dalai Lama auch bei seiner Flucht nach Indien, über Morsegeräte mit Handkurbelantrieb hielten sie Funkkontakt mit der CIA. Später finanzierten die Amerikaner den Aufbau einer tibetischen Rebellenarmee im nepalesischen Königreich Mustang.“ – heißt es in dem Artikel.

 

Trimondi Kommentar: Obgleich die tibetischen CIA Kontakte schon seit langer Zeit bekannt waren und wir selber schon 1998 im Der Schatten des Dalai Lama und in Artikeln darüber geschrieben haben, wurden sie erst 2012 drei Jahre nach dem Stern Artikel von einer breiten deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen. Auslöser waren ein Bericht in der Süddeutschen Zeitung und eine Sendung von Panorama (ARD-TV). Beide Medien brachten die Information mit gepfefferten Kommentaren: „Heiliger Schein - Der Dalai Lama, höchster Repräsentant des reinen Pazifismus, wusste wohl doch mehr vom Treiben der CIA in Tibet, als er bisher zugegeben hat. Nun fallen gewaltige Schatten auf den Gottkönig.“ – schrieb Deutschlands größte Tageszeitung (Süddeutsche) und Panorama verwies im Internet mit folgenden Worten auf seine Sendung: „Der Dalai Lama und die CIA - Pazifist mit Schattenseiten: Panorama wirft einen Blick auf einen wenig geliebten Teil der tibetischen Geschichte und fragt: Was ist wirklich dran am Image des Friedensnobelpreisträgers Dalai Lama?“ Die kritische Berichterstattung zog weitere Kreise auch in anderen Ländern Europas, wie wir in der Trimondi Online Magazin Dokumentation Der Dalai Lama und die CIA ausführlich darstellen.

 

In ihrem Stern Artikel fassen die Autoren  zusammen: „Viele Anhänger des Dalai Lama, die den Buddhismus mehr als esoterischen Kult sehen denn als Religion, sind erstaunt, wenn sie von der Zusammenarbeit ihres Idols mit dem amerikanischen Geheimdienst hören. Oder wenn sie erfahren, dass die Ausbreitung des Buddhismus in Asien ähnlich blutig verlief wie die des Islam in Arabien oder die christlichen Kreuzzüge. Immer wieder lieferten sich auch einzelne Klöster in Tibet brutale Kämpfe. Der Buddhismus ist nicht unbedingt toleranter als andere Religionen.“

 

Trimondi Kommentar: Für die Kriegsbereitschaft und Aggressivität des Tibetischen Buddhismus in der Vergangenheit hätte man sich weit mehr Materialien gewünscht. Wir haben einiges davon in dem Artikel Gewalt, Töten und gerechte Kriege im Buddhismus gesammelt. Mittlerweile zerfällt der Mythos von der absoluten Friedfertigkeit des Buddhismus zunehmend, wie zum Beispiel aus der kürzlich ausgestrahlten wenn auch etwas zurückhaltend verfassten Sendung des Deutschlandfunks zu entnehmen ist: Auch Buddhisten kennen menschliche Konflikte. Viel krasser diesbezüglich setzt sich eine Titel Story von Time Magazine mit der Gewalt im Buddhismus auseinander, wo unter dem Titel Das Gesicht des buddhistischen Terrors über die Verfolgungen von Muslimen durch Buddhisten in Burma berichtet wird.

 

Nahe dem Ende des Stern Artikels werden dann noch die negativen Äußerungen des Dalai Lama zur Homosexualität und zum Sexualverkehr zwischen Eheleuten erwähnt. Die Doktrin verbiete es, „mit der eigenen Frau oder einer Partnerin oralen oder analen Sex zu haben“ – erklärte er in einem Playboy-Interview.

 

Trimondi Kommentar: Eine besonders amüsante Zusammenfassung von den Sexual-Anschauungen des Dalai Lama findet man in dem Satire-Video The Pope Vs. The Dalai Lama.  Die Statements des „einfachen Mönchs“, wie sich der Dalai Lama gerne selber nennt, zur Sexualität sind umso delikater, da sexuelle Riten Teil des Vajrayana-Tantrismus sind, der die höchste Einweihungsstufe des Tibetischen Buddhismus darstellt. Darüber berichten die Stern Autoren nichts. Siehe hierzu aus The Shadow of the Dalai Lama die beiden Kapitel Tantric Buddhism und The Tantric Female Sacrifice. Die okkulten Sexualriten des Lamaismus sind es auch, die in Taiwan zu Protestaktionen von einheimischen Buddhisten gegen den Dalai Lama und sein Religionssystem führen. Auf dem Blog Tantrismuskritik, der englische und auch deutsche Beiträge enthält, ist viel darüber nachzulesen. Die Parole dieser Taiwan-Buddhisten lautet „Tibetischer Buddhismus ist kein Buddhismus“. Auch die offizielle irische Sektenberatungsstelle Dialogue Ireland plädiert dafür, dass der Lamaismus wegen der geheimen Sexualriten nicht als Religion sondern als Kult eingestuft werden müsste. Seitdem die schottische Tibetologin June Campbell wegen sexuellen Missbrauchs Ende der 90er Jahre das System verließ und ein Buch hierzu veröffentlichte (I was a Tantric sex slave) haben sich zunehmend Frauen zu Wort gemeldet und von Missbräuchen berichtet. Eine intellektuell gewichtige Stimme von ihnen ist die Amerikanerin Chris Chandler mit ihrem Blog Extibetanbuddhist. Die jahrelang praktizierende Anhängerin des Lamaismus und beste Kennerin der Szene diskutiert anhand von authentischem Insider-Material solche Sujets wie „Der tibetische Buddhismus als ein Kult der Bewusstseinskontrolle“, „Die neue buddhokratische Weltordnung“ oder „Tibetische Lamas kollaborieren mit China“. Ihr eigentliches Schwergewicht liegt jedoch auf dem Thema „Institutionalisierter sexueller Missbrauch im Tibetischen Buddhismus“.  Bekannt in letzter Zeit wurde auch der sexuelle Missbrauch von Kindermönchen in tibetischen Klöstern. Die monastische Päderastie war und ist ein in der Mongolei und Tibet häufig auftretendes und weit verbreitetes Phänomen, das selbst vor hohen Lama-Inkarnationen nicht Halt macht, wie in jüngster Zeit aus einem Video des jungen Kalu Rinpoche zu hören ist: „Als ich neun war starb mein Vater und ich hatte ein sehr schweres Leben. […] Ich wurde zu verschiedenen Klöstern transportiert und als ich 12 und 13 war, wurde ich sexuell von anderen Mönchen missbraucht. […] Mein eigener Lehrer versuchte mich zu töten, das ist die Wahrheit und das zu einer Zeit, wo ich wirklich noch traditionell war. […] Sie versuchten mich zu töten, weil ich nicht tun wollte was sie von mir verlangten.“ Kalu Rinpoche ist einer der ranghöchsten Lamas der so genannten Kagyü-Schule.

 

Zum Schluss ihrer Stern Reportage zitieren Tilman Müller und Janis Vougioukas noch einmal Jamyung Norbu den ehemaligen Chefredakteur der eingestellten Zeitung Mang-Tso: „Wir haben keine Demokratie. Vieles ist heute sogar schlechter als 1959. In den alten Tagen gab es drei Zentren der politischen Gewalt: den Dalai Lama, die Klöster und die Adeligen.“ Heute sei der Dalai Lama als einzige Führungsperson übrig geblieben.

 

Trimondi Kommentar: Der Stern ist ein wichtiges Medium im deutschsprachigen Raum und der Dalai Lama und seine Entourage nehmen Presseberichte äußerst ernst. Das kennen wir aus unserer früheren Zeit mit ihm. Ein Beispiel hierfür war auch das Jahr 2013 als in Deutschland kurz vor dem damaligen Dalai Lama Hannover Besuch  plötzlich in die deutsche Medienlandschaft wegen versuchter Zensur von tibetischer Seite die Wogen der Empörung hoch gingen. (Siehe hierzu den Trimondi Artikel Weshalb veruschen die Veranstalter des Dalai Lama Besuiches, den Religionsführer vor Zensurmaßnahmen vor kritischen Pressefragen zu schützen?)

 

Die zunehmende Kritik im Westen wird den Dalai Lama dazu veranlasst haben, 2011 nach außen hin auf seine Rolle als Staatsoberhaupt zu verzichten und eine dem entsprechende Verfassungsänderung durchzuführen. Ende April 2011 wurde der Jurist Lobsang Sangay zum Ministerpräsidenten und damit zum politischen Oberhaupt der Exil Tibetischen Regierung gewählt. Viele Kritiker sehen das als einen geschickten Schachzug und sind davon überzeugt, dass der Religionsführer (oder vielleicht sogar sein Staatsorakel?) weiterhin alle politischen Entscheidungen trifft. Bei seinen internationalen Auftritten und seinen politischen Äußerungen zur Tibet-Frage hat sich jedenfalls überhaupt nichts geändert. Lobsang Sangay läuft hinter dem Dalai Lama her wie ein Schatten und wird kaum als selbstständige politische Autorität und Staatsmann wahrgenommen. Unter den Tibetern sind Glaube und Politik immer noch aufs engste miteinander vermischt, so dass man auch nach der angeblichen „Demokratisierung“ nicht von einer klaren Trennung von Staat und Religion sprechen kann.

 

Zum Beispiel soll Lobsang Sangay (nach Aussage des Tibetologen Robert Thurman) vom Dalai Lama in das Kalachakra Tantra eingeweiht worden sein. (2011 war er während der als Spektakel der Superlative inszenierten Kalachakra Initiation in Washington bei mehreren Dalai Lama Auftritten zu sehen.) Als Eingeweihter hatte das neue exiltibetische Staatsoberhaupt die strengen traditionellen rituellen Regeln ebenso wie jeder anderer Teilnehmer zu befolgen und einen Devotion Schwur gegenüber dem Kalachakra Meister und Guru zu leisten (in diesem Fall dem Dalai Lama), der von ihm der Doktrin nach fordert, alles zu tun, was dieser verlangt.

 

Das Kalachakra-Tantra-Ritual ist eine Mega-Initiation, die der tibetische Religionsführer jährlich öffentlich und weltweit für Tausende von Gläubigen durchführt und an der nicht nur Mönche sondern auch Laien teilnehmen dürfen. Hundertausende von Tibetern und Zehntausende von Westlern haben mittlerweile im Laufe der letzten Jahrzehnte diese Initiation empfangen. Ohne jegliche Voraussetzungen kann man bei dem Ritual mitmachen, mit der Ausnahme, dass die Teilnehmer eine Opferformel und ein Gelübde sprechen, die sie verpflichten, nicht gegen den Willen des Gurus (im gegebenen Fall wäre das der Dalai Lama als Kalachakra Initiation Meister) zu handeln. Der Initiant sagt die Opferformel, die folgendermaßen beginnt: „Dem Lama, der persönlichen Gottheit, und den drei Juwelen opfere ich in der Visualisierung meinen Körper, meine Sprache, mein Bewusstsein und aller Ressourcen von mir selbst und anderen.“ Bei Abnahme des Schwurs, hält der Guru, beziehungsweise der Dalai Lama, dem Initianten (oder bei dem Mega-Ritual allen versammelten Teilnehmern) einen Vajra (einen Ritualgegenstand) über dem Kopf und sagt: „Das ist der Schwur-Vajra. Wenn du über diesen Vorgang zu irgendeiner Person, die ungeeignet ist, etwas sagst, wird er dir den Kopf spalten.“ Dann gibt er dem Schüler Ritualwasser zu trinken und erklärt: „Wenn Du das Gelübde überschreitest, wird dieses Höllen Wasser brennen.“ Hält er sich jedoch an dem Gelübde dann wird es wie Ambrosia schmecken. Anschließend spricht der Dalai Lama in seiner Rolle als Kalachakra Meister zu dem Initianten: „Du musst tun, was ich dir sage. Du sollst mich nicht verhöhnen und wenn du das tust, wird, ohne dass dich der Schrecken verlässt, die Zeit des Todes kommen und du wirst in eine Hölle fallen.“ Der Lamaismus kennt zahlreiche Höllenarten, deren Qualen in Heiligen Texten ausführlich beschrieben werden. Auch wenn in dem vom Dalai Lama mit verfasstem Ritual-Text zu der Kalachakra Einweihung zu lesen ist, der Schwur sei hinfällig, wenn der Guru etwas Irrationales verlange, weiß jeder, der das autokratische tibetische Guru-System kennt, dass derartige Einschränkungen für Westler gedacht sind. „Demokratie sieht jedenfalls anders aus“ – könnte man mit den Stern Reportern Tilman Müller und Janis Vougioukas sagen. In dem von uns initiierten Kritischen Forum Kalachakra wird zudem ausführlich auf die kriegerischen und buddhokratisch totalitären Aspekte des Rituals eingegangen. (1)

           

Ein weiteres neues Phänomen seit 2009 waren auch die  Selbstverbrennungen von jungen Mönchen in Tibet. Mit ihrem Selbstmord protestierten sie nicht nur für die Freiheit ihres Landes,  sondern ebenso für die Rückkehr des Dalai Lama. Auch in diesem Fall hat der Religionsführer eine äußert zweifelhafte Haltung eingenommen. Zwar gab es kurz vor seinem Deutschlandbesuch (2013) eine Distanzierung von den „Märtyrer-Aktionen“ in der Wochenzeitung Die Zeit. „Was diese jungen Leute tun, hilft nicht.“ – sagte der Dalai Lama in einem Interview. Aber Monate lang zuvor hatte er, trotz internationaler Aufforderungen und obgleich der Buddhismus nicht nur das Töten sondern auch den Suizid verbietet, die Selbstverbrennungen keineswegs verurteilt, sondern sogar erklärt, er könne nichts dazu sagen, um nicht die Familien der Opfer zu beleidigen. Dutzende junger Mönche kamen so auf schreckliche Weise um. Dabei hätte ein einziges, klares Wort die Tragik vermeiden lassen, denn der Dalai Lama gilt für seine tibetischen Anhänger als lebender Gott auf Erden. Erst als die Verbrennungen keinen Erfolg hatten, den Westen durch die spektakulären Selbstmorde gegen China zu mobilisieren, sondern im Gegenteil, als die Kritik daran immer lauter wurde, kam die Distanzierung von Seiten des Religionsführers. Und danach endeten  die Massen Selbstverbrennungen auf einmal abrupt.

 

Man kann dem Stern Magazin nur danken, dass er den Mut hatte gegen einen gewissen blind apologetischen Medienstrom zu schwimmen, insbesondere gegen die ungebrochene verklärte Dalai Lama Lamaismus Lobhudelei des Spiegels Magazin. Umso bedauerlicher ist es, dass dieses Heft inzwischen sogar aus dem Archiv der Zeitschrift verschwunden zu sein scheint. Auf der leer erscheinenden Bestellseite zum Heft  wird nur ganz unten noch in kleiner Schrift auf den Titel hingewiesen: Die-zwei-Gesichter-des-Dalai-Lama. Sollte die Reportage mittlerweile wieder hineingestellt worden sein, dann können wir Ihnen nur empfehlen, eine Nummer zu kaufen. Sie hat Raritätenwert!

 

Wer sich weiter für kritische Stimmen zum Dalai Lama und zu Tibetischen Buddhismus interessiert klicke auf die englische Website mit Critical Links.


(1) „To the Lama, personal deity, and Three Jewels I offer in visualization the body speech and mind and resources of myself and others.” – “This is your pledge vajra. If you speak about this mode to anyone who is unfit, it will split you head.” – “If you transgress the pledges, this water of hell will burn.” – “You must do, what I tell you to do. You should not deride me and if you do, without forsaking fright, the time of death will come and you will fall into a hell.” (Dalai Lama and Jeffrey Hopkins  - Kalachakra-Tantra – Rite of Initiation for the Stage of GenerationLondon 1985,  S. 170, 240, 241, 242