Der Schatten des Dalai Lama

Sexualität, Magie und Politik im tibetischen Buddhismus

 

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MEDIEN (12)

1. Wiss. Literatur-Anzeiger der Univ. Gießen und Marburg - Herbst 1999 - Prof. Dr. Dr. Köhler

2. Evangelische Informationsstelle: Kirchen - Sekten - Religionen - Prof. Dr. theol. Georg Schmid

3. Gesundheit ( Natur-Mensch-Technik )

4. Forum Leib und Seele ( Sendung vom 12.05.1999 im Hessischen Rundfunk) - Lothar Bauerochse


Wiss. Literatur-Anzeiger der Univ. Gießen und Marburg - Herbst 1999 - Prof. Dr. Dr. Köhler

"Der Schatten des Dalai Lama"

Unwissenheit ist seit eh und je Voraussetzung und Fundament aller Religionen und Ideologien, den "wer nichts weiß, muss alles glauben" (Maria v. Ebner-Eschenbach). Auf dieser altbewährten Basis blüht derzeit im Westen vor allem das Geschäft mit indisch-asiatischen Religionen und Weisheitslehren, besonders mit dem tibetischen Buddhismus. Dessen oberster Repräsentant, Se. Heiligkeit der Dalai Lama, übt eine geradezu magische Anziehungskraft auf jene große Masse von Menschen aus, die weder die Wurzeln noch die entscheidenden Inhalte ihrer eigenen Religion kennen und kritisch zu beurteilen vermögen, geschweige denn die fremder. Zu ihnen gehören keineswegs nur akademisch Ungebildete, die ihr gesunder Menschenverstand schützt, sondern jene vielen, oft nochspezialisierten, aber philosophisch nicht ausreichend gebildeten intellektuellen Eklektiker, besonders Physiker, aber auch Politiker und natürlich ganz besonders Künstler (Hollywood!), religiöse Schwärmer und Mystiker aller Art, denen exakte Wissenschaften und rationales Denken ohnehin fremd oder gar verhasst sind. Mit ihnen hat der oberste gelbe Magier ein leichtes Spiel.

Welches Weltbild aber verbirgt sich hinter der lächelnden, scheinbar so menschenfreundlichen und friedfertigen Maske des tibetischen Gottkönigs? Die sich bei dieser Kernfrage offenbarende Unwissenheit, besonders in der westlichen Welt, kann man nur als katastrophal bezeichnen. Hier kann und will das vorliegende Buch helfen, für das man dem mutigen Forscherehepaar Trimondi nicht dankbar genug sein kann. Darin haben sie das riesige Material in zwei Teile gegliedert. Der erste beschäftigt sich mit den geistigen Grundlagen und Entwicklungen des Buddhismus, wobei der Scherpunkt auf dessen jüngster und für die zivilisierte Menschheit bedrohlichsten Variante, dem Tantryana bez. Vajrayana, als dem tibetisch-tantrischen Buddhismus mit seiner phantastischen Inkarnationslehre liegt. Erst im 10. Jh. n. Chr. hat dessen wichtigstes Fundament, das Kalachakra-Tantra, sein endgültiges, aggressiv destruktives Profil erhalten. Sein Ziel ist die Weltherrschaft einer androgynen Buddhokratie mit dem Weltenherrscher (Chakravartin) an der Spitze. Der aber ist kein anderer als der Dalai Lama, in dessen Institution die alten tibetischen / Kriegsgötter ebenso präsent sind wie die pazifistischen und mitleidenden Gottheiten. So entsteht, besonders in dem berüchtigten Shambhala-Mythos, eine sadomasochistische, extrem menschen-, besonders frauenfeindliche, klerikal-patriarchalische Märchenwelt mit einem Pantheon von 722 Gottheiten und 18 Höllen sowie einem Heer von Geistern und Dämonen, die von Priestern ständig mit Beschwörungen und Opferritualien in Schach gehalten werden müssen, wobei das Frauenopfer und die pervers Sexualmagie der tantrischen Mysterienkulte besonders morbid und abstoßend sind.

Derartige archaischen Wahngebilde und Praktiken, besonders die Ritualmagie und das Orakelwesen, bestimmen die Politik des Dalai Lama. Sie gipfeln in dem Versuch, mit magischen Mitteln schließlich die Herrschaft über all Völker und Religionen der Welt zu gewinnen. Diesem auf dem Kalachakra-Tantra und dem aggressiven Shambhala-Mythos basierenden Taktiken des XIV. Dalai Lamas ist der zweite Teil des Buches gewidmet. Dabei zeigen sich interessante ideologische und kultische Parallelen und Berührungspunkte zu Faschismus, Neo-Faschismus und dem "esoterischen Hitlerismus" bis hin zu dem ebenfalls tantrisch geprägten japanischen "Giftgasguru" Shoko Asahara, der die gesamte zivilisierte Welt wenigstens vorübergehend in Schrecken versetze. Damit sie nicht erneut in den süßen Schlaf ihres Wohlstands versinkt, sondern gegen das nicht minder süße, aber letztlich tödliche Gift des archaisch-totalitären, patriarchalisch-fundamentalistischen tibetischen Buddhismus immun wird, ist das vorliegende Buch wie kein anderes derzeit verfügbares geeignet. Seine Lektüre ist daher eine conditio sine qua non für Wissenschaftler, Erzieher, Politiker und alle, die für Menschen Verantwortung tragen, nicht zuletzt Ärzte, Psychotherapeuten und Psychiater. Neben einem Sach- und Personenregister ist ein ausführliches Glossar dringend erwünscht.


Evangelische Informationsstelle: Kirchen - Sekten - Religionen - Prof. Dr. theol. Georg Schmid

"Wer keine Illusionen braucht, schätzt das umfangreiche Werk als Beitrag zu einer längst fälligen Korrektur."

Herbert und Mariana Röttgen, das unter dem Pseudonym Trimondi publizierende Autorenpaar, reißt ein vom modernen Tibetmythos geblendetes Publikum nicht nur aus seinem nostalgischen Traum vom allseits friedlichen, nie gewalttätigen, durchwegs frauenfreundlichen und alle dunklen Kräfte im Menschen in helle Energien verwandelnden tibetischen Buddhismus.

In dem mehr als 800 Seiten umfassenden Band werden auch die an sich im Westen immer schon bekannten dunklen, okkulten, sexualmagischen, frauenfeindlichen, faschismusnahen, kriegerischen und politisch totalitärer Aspekte des tibetischen Buddhismus mit einem seiner wesentlichsten Ritualtexte, mit dem Kalachakra-Tantra, verbunden.

Die Schattenseiten des tibetischen Buddhismus sind in diesem Kontext betrachtet keine Unfälle in der Geschichte einer an sich restlos friedlichen Spiritualität, sondern folgerichtiger Ausdruck einer Religion und einer Kultur, die ihre Schatten nie nur in Licht auflösen wollte und will, sondern ihnen eine verhängnisvolle Eigendynamik zugesteht. Die für den westlichen Tibetromantiker so unverständlichen Ausbrüche der Gewalt im Umfeld des tibetischen Buddhismus und des Dalai Lama - man denke an den opferreichen und immer noch nachwirkenden Kampf zwischen Rotmützen und Gelbmützen in der Zeit des 5. Dalai Lamas, an die sog. Shugden-Debatte der letzten Jahre, an den noch andauernden Streit um die wahre Reinkarnation des neuen Karmapa, an die Unterstützung, die der Dalai Lama dem japanischen Sektenguru Shoko Asahara gewährt oder an die militärischen Ambitionen der Brüder des Dalai-Lama - alle diese "absurden" Vorkommnisse sind nicht mehr Blitze aus einem heiteren Himmel, ohne Vorgeschichte und ohne Nachhall. Der einerseits lächelnd bestrittene und andrerseits unbefragt wahrgenommene Machtanspruch des Dalai Lama gründet wie viele anderen scheinbaren Widersprüche in der spirituellen und politischen Tradition Tibets und ist nur zu verstehen, wenn die moderne Tibetbegeisterung einer realistischeren Beschäftigung mit jener Kultur und Religion weicht, die wie jede andere ihre Licht- und Schattenseiten pflegte und pflegt.

Das Urteil des Lesers zu dieser ausführlichen Beschäftigung mit den Schattenseiten des tibetischen Buddhismus steht und fällt mit der Bereitschaft, auf Nostalgie zu verzichten und sich zuzugestehen, dass es in der Welt des Menschen die restlos friedliche Kultur oder Religion nie gab und nie geben wird. Wer die Illusion vom durchwegs friedlichen Buddhismus nicht preisgeben kann oder will, kann im Werk des Autorenpaares nur eine finstere Abrechnung enttäuschter ehemaliger Freunde des tibetischen Buddhismus sehen. Wer keine Illusionen braucht, schätzt das umfangreiche Werk als Beitrag zu einer längst fälligen Korrektur.


Gesundheit ( Natur-Mensch-Technik )

Trimondi, Victor und Victoria: Der Schatten des Dalai Lama; Sexualität, Magie und Politik im tibetischen Buddhismus. "Gerade weil ich die Gefahr der Ausübung magischer Wunderkräfte kenne, scheue und verabscheue ich sie." Aussprüche Buddhas I. 212.

Dieses hochaktuelle Buch bereitet dem Rezensenten, wie sicher auch dem Gros seiner Leser, nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Es ist schlichtweg dazu geeignet, unsere Gesellschaft zu spalten - jedenfalls dürfte es keinen einigermaßen verantwortungsbewussten Zeitgenossen unberührt lassen, geht es doch unterm Strich um nichts geringeres, als die Behauptung, das spirituelle und politische Oberhaupt Tibets, der XIV Dalai Lama, führe mit seiner weltweiten Kampagne mehr im Schilde als die durchaus legitime Befreiung seines, von Rotchina okkupierten, Heimatlandes. Wer hier anmerken will, was uns in Mitteleuropa denn der Buddhismus angehe, ignoriert, dass gerade der tibetische Buddhismus, zur Projektionsfläche der religiösen Sehnsucht Zehntausender Europäer geworden ist.

Der Zulauf, den der Dalai Lama erfährt, muss den Papst vor Neid erblassen lassen. Die Autoren, beide ehemals in der "Free Tibet" Bewegung aktiv, nahmen den Auftrag des Dalai Lama, sich vor einer eventuellen Konversion zum Buddhismus eingehend mit seiner Lehre und Tradition auseinander zusetzen, beim Wort. Ihre zunächst unter durchaus sympathisierendem Aspekt begonnenen Studien erbrachten jedoch zuletzt das völlig unerwartete gegenteilige Resultat: Sie erkannten im tibetischen Buddhismus, seinen Lehren und seiner magischen Praxis in der Tagespolitik eine Gefahr, nicht nur für die Psyche des individuellen Adepten, sondern für den Weltfrieden. Mit ihrem, auf persönlichem Erleben und akribischer Recherche basierenden Buch wollen sie diese vorgeblich so pazifistische, gewaltlose, ebenso urfromme wie tolerante Religion als einen imperialistischen, frauenfeindlichen, von mittelalterlich anmutendem Geister- und Dämonenglauben durchzogenen Atavismus entlarven.

Angeblich gibt es kein Tabu (Kindesmissbrauch, Nekrophilie, Kannibalismus!), das in den sexualmagischen Riten des tantrischen Weges dieser Religion nicht gebrochen würde. Als aufgeklärter Mensch Mitteleuropas will man das alles nicht glauben und sucht Schutz bei der Tiefenpsychologie, die den Gräuel als Projektionen oder symbolhaftes Geschehen erklären könnte - doch auch hiergegen haben die Autoren erdrückendes Beweismaterial gesammelt. Auch der Buddhismus hat eine wildbewegte Geschichte und Vergangenheit, auch dort gab es Frauenhass und Hexenverbrennungen und gibt es noch immer Kämpfe befehdeter Sekten. Man denke nur an den Giftgasguru Shoko Asahara, der sich als Vorkämpfer einer weltweiten Buddhokratie sieht. Doch auch der Dalai Lama will, nimmt man das vorliegende Buch in letzter Konsequenz ernst, nichts Geringeres als die Weltherrschaft in einem buddhistisch-theokratisch ausgerichteten Zwangsstaat. Aufhorchen lässt, dass die Autoren sich bereit erklären, ihre Thesen mit ihm oder einem Stellvertreter öffentlich zu diskutieren, es sich mit diesem, sicher großes Furore machenden Werk also nicht um einen einmaligen Schuss aus dem Hinterhalt handelt, der nur dazu dient, Verwirrung zu stiften. Was bleibt, ist ein erschüttertes Bild vom allerheiligsten Dalai Lama, der reinen, philanthropischen Politik und Lehre des Buddhismus und die Gewissheit, dass jede traditionelle Religion, egal welcher Couleur, ihre Leichen im Keller hat. Zu bedauern ist nur der Idealismus jener zahlreichen ehrenamtlichen Helfer des Komitees zur Befreiung Tibets. (B.H.)


Forum Leib und Seele ( Sendung vom 12.05.1999 im Hessischen Rundfunk) - Lothar Bauerochse

Er gilt vielen als ein wahrer Friedensengel: Der Dalai Lama, das geistliche und weltliche Oberhaupt der Tibeter. Ein einfacher buddhistischer Mönch, höflich, freundlich, zurückhaltend, fast immer ein Lächeln im Gesicht. Ein von der Großmacht China Vertriebener, ein Botschafter des Friedens und der Gewaltfreiheit, der scheinbar auf verlorenem Posten kämpft, für den Erhalt seiner Kultur und die nationale Eigenständigkeit seines Volkes. Der Westen schätzt und verehrt den Dalai Lama. Vor zehn Jahren erhielt er den Friedensnobelpreis.

Das alles aber soll nur Scheinwelt sein, bloß Maske und Verführung. So lautet seit neuestem die Kritik am Dalai Lama. In Wirklichkeit sei der Dalai Lama ein Vertreter einer archaisch rückständigen Kultur und Religion, beseelt von einem magischen Götterglauben, frauenfeindlich und undemokratisch. Sei eigentliches Ziel sei die Errichtung einer patriarchalen Weltherrschaft von Mönchseliten. Das behauptet jedenfalls das Autorenpaar Victoria und Viktor Trimondi in einem Buch, achthundert Seiten stark, das seit einigen Wochen auf dem Markt ist. Was ist dran an der Kritik am Dalai Lama?

Dazu im Gespräch der Moderator, Herr Bauerochse, mit dem Autorenpaar Trimondi und Professor Grundmann, Religionswissenschaftler an der Universität Hamburg...

Bauerochse: Herr Trimondi, Sie haben sich bei den Recherchen für ihr Buch mehrere Jahre lang intensiv mit dem tibetischen Buddhismus beschäftigt. Ein paar Thesen haben wir gerade gehört. Wie ist es, halten Sie den Lamaismus, also den tibetischen Buddhismus für eine gefährliche Religion?

Victor Trimondi: Ja, er ist unserer Ansicht nach eine gefährliche Religion und vor allem deswegen, weil er seine Mysterien, weil er seine Grundlagen und weil er sein magisches Weltbild nicht öffnet, das heißt, nicht zur Diskussion stellt. Es ist ja nun äußerst schwierig zu sagen, wenn man Schreckensgestalten [Dämonen] in einer Religion zulässt und z.B. transformiert, dass das grundsätzlich falsch wäre. Was falsch ist, ist, dass die Diskussion in der Öffentlichkeit über die sogenannten Schattenseiten völlig verdeckt wurde und durch völlig falsche [positive] Bilder in der Öffentlichkeit nicht zur Sprache kommt. Das haben wir z.B. in der Einleitung mit Lama Kata gesehen. Im Westen versteht man unter dem tibetischen Buddhismus allgemein einen Erleuchtungsweg, eine Erleuchtungsreligion, die für jeden zugänglich ist. Wer sich diesem Weg öffnet, wer sich "leer" macht... Was fast überhaupt nicht bekannt ist, sind zwei Dinge, dass es nicht nur um die Leere und das Mitgefühl geht, sondern um ein ganzes, sehr kompliziertes und zum Teil sehr grausames Pantheon [von Göttern, Geistern und Dämonen], das einen ganz wesentlichen Teil der tibetischen Kultur ausmacht. Auf der anderen Seite, dass dieser Weg in die Erleuchtung nicht beachtet, dass sich dahinter ein Staatssystem, ein hierarchisches, ein lamaistisches System verbirgt, das Politik und Spiritualität nicht trennt.

Bauerochse: Herr Grundmann, Sie sind Theologe und Religionswissenschaftler an der Universität Hamburg. Wie sehen Sie den tibetischen Buddhismus? Wir haben sozusagen von den Bildern eben in der Zusammenfassung gehört.

Grundmann: Ja, ich würde zunächst bemerken wollen, dass es den tibetischen Buddhismus so nicht gibt. Es gibt verschiedene Traditionen. Der Dalai Lama gehört zu den Gelugpa, den Gelbmützen. Es hat früher andere gegeben, aber es gibt heute auch z.B. den Dorf-Lamaismus, wo ein ganz anderes Lama-Bild da ist. Das ist also das eine, was man sagen kann. Es gibt verschiedene Weisen tibetisch-buddhistischer Frömmigkeit. Hinzu kommt das komplexe Verstehen dieser Gebirgsregion, wo fast jedes Tal, oder jedes Dorf eine eigene Frömmigkeit oder auch einen eigenen Stil ihres Glaubens hat, teilweise vermischt mit der Bon-Religion, also der vortibetischen Religion.

Bauerochse: Verzeihung, eine einheimische Religion, bevor der Buddhismus nach Tibet kam?

Grundmann: Ja, genau, und dieses Ineinander ist erst einmal so schwierig überhaupt zu verstehen, um wirklich zu sagen: Was ist hier eigentlich los? Und ich würde hier erst einmal erwarten, dass man sagt, um welche Form des tibetischen Buddhismus ist zu (ver-)handeln.

Bauerochse: Gut, aber reden wir einmal konkret über das, was im Buch von Trimondis angesprochen ist. z.B. die Mythen, die Tantren, die Initiationswege. Wie kann man heute solche Mythen verstehen? Wie würden Sie das als Religionswissenschaftler beschreiben?

Grundmann: Also, einen Mythos zu verstehen, heutzutage, ist in unserer säkularisierten Zeit und Epoche äußerst schwierig. Um die Bilder richtig zu deuten, da können wir, das macht man ja teilweise auch, auf Tiefenpsychologie und Analyse von Bildern [zurückgreifen]. Aber das sagt ja längst nicht alles. Ein Mythos umgreift das Ganze noch viel weiter, als dass er irgendwie nur psychologische oder seelische Befindlichkeiten darstellt. Ein Mythos überhaupt erst einmal zu deuten, richtig zu deuten, dass haben wir auch in der Theologie der Exegese, der alttestamentarischen Mythen z.B. mühsam gelernt. Es ist eine heikle Sache, und es gibt keineswegs nur die eine Deutung, sondern es gibt unterschiedliche Sichtweisen. Das ist also eine ganz große hermeneutische Aufgabe: Wie ist ein Mythos richtig zu verstehen?

Bauerochse: Sie haben einige Mythen, Tantren beschrieben. Im Zentrum bei Ihnen steht das sogenannte Kalachakra-Tantra. Wenn ich das mal versuche, zusammenzufassen: Das ist so eine Art Initiationsritus, ein Weg mehrerer Riten, und dieser Tantra enthält auch Elemente ritualisierter Sexualität. Ihre These besagt, wenn ich das mal so zusammenfasse, dass Mönche Frauen missbrauchen, ihnen sozusagen in einem solchen Ritus auch Energie absaugen, um im Grunde eine höhere Machtstufe zu erreichen. Und wenn sich dann das mit Politik verbindet, geht es um Weltherrschaft. Meine Frage: Warum sind für Sie diese Mythen, die sind ja eigentlich sehr alt, warum sind die eigentlich heute noch so gefährlich?

Victor Trimondi: Zuerst ist einmal zu sagen: Das Kalachakra-Tantra unterscheidet sich von den anderen Tantras nicht dadurch, was das Absaugen der weiblichen Energie oder was sexualmagische Praktiken anbelangt. Im Gegenteil, das ist eigentlich ein Phänomen, was es bei den anderen Tantras auch gibt - bei den höheren Tantras oder Höchsten Tantras und was im Kalachakra- Tantra weitgehend übernommen wurde. Das wirklich Phänomenale an diesem Tantra sind zwei Aspekte: Das ist einmal, dass es eine politische Theologie beinhaltet und eine Kosmogonie... Unter Kosmogonie versteht man den Entwurf des gesamten Universums von verschiedenen Epochen der Zeit [ausgehend], der Weltentstehung und des Weltvergehens. ...und es [das Kalachakra Tantra] beinhaltet eine politische Theologie, nämlich den Shambala- Mythos. Das Interessante an diesem Tantra ist, dass es offensichtlich als einziges Tantra, was zumindest mir bekannt ist, die sexuelle Ausbeutung oder diesen sexuellen Ritus mit einer politischen Vision verbindet. Das macht das Ganze so spannend, und es zieht wirklich die Brücke [zwischen Ritual und Politik], die in den anderen Tantras höchstens ganz allgemein ausgedrückt wird: Dass derjenige, der sozusagen den Initiationsweg eines Tantras durchlaufen hat, nachher ein Weltenherrscher sein könnte. Aber im Kalachakra-Tantra gibt es Prophezeiungen, Daten, Organisationsformen dieses Weltherrschertums, die sehr präzise sind.

Bauerochse: Trotzdem, man könnte sagen, das sind alte Texte in Sanskrit, die versteht heute sowieso keiner mehr. Vielleicht auch in Tibet nicht einmal. Warum sollen die noch gefährlich werden?

Victor Trimondi: Also, gefährlich werden sie wegen ihres Inhalts. Die Frage ist erst einmal zu beantworten: Haben sie heute eine Bedeutung, sind sie präsent im Bewusstsein? Ich habe mir den Spaß gemacht, den Begriff " Shambhala-Books" im Internet und zwar bei der Suchmaschine "Excite" einzugeben, und ich hatte insgesamt 1.500 000 Meldungen von diesem Begriff! Natürlich wird dabei vieles wiederholt, aber dieser Shambhala-Mythos hat sehr, sehr viele Menschen in der jüngsten Zeit in seinen Bann gezogen. Natürlich gibt es die unterschiedlichsten Interpretationen dieses Mythos, obwohl eine Grundtendenz immer wieder erkennbar ist, nämlich, dass es sich hier um ein imaginäres oder auch reales Reich handele, das die Weltgeschichte beeinflusst und auch in Zukunft beeinflussen wird. Andererseits, und deswegen ist dieser Mythos so gefährlich, hat er ja zweimal historische Realität erhalten: Einmal in der Auseinandersetzung der mongolisch-lamaistischen Gruppierungen mit den Bolschewiki. In den zwanziger Jahren ist der Shambhala-Mythos ganz tief dort [in der Mongolei] verankert gewesen, in den kriegerischen Auseinandersetzungen, die von beiden Seiten sehr brutal geführt wurden. Die Mongolen haben also unter der Vorstellung, dass sie Shambhala-Krieger wären, diese Auseinandersetzung geführt. Das [der Mythos] spielt in der Mongolei immer noch eine Rolle.

Bauerochse: Darf ich Sie kurz unterbrechen? Bevor wir in so historische Einzelheiten kommen, wollte ich trotzdem Herrn Grundmann noch mal fragen: Teilen Sie diese Einschätzung, dass die Mythen heute eine gefährliche Kraft entwickeln?

Grundmann: Also, ich habe die Trimondis [so] verstanden, jetzt in ihrem Buch, dass dieser Shambhala-Mythos durch die Initiationsriten immer aktualisiert wird und präsent gehalten wird. Also insofern ist es also eine Funktion. Das habe ich wahrgenommen. Auf der anderen Seite würde ich die Rückfrage stellen: Wodurch entsteht eigentlich Gefährlichkeit? Also... Man könnte auch vom Christlichen her sagen, wenn man in die Kirche sieht und sieht den Kruzifixus stehen, oder genießt also Eucharistie oder das Abendmahl, Leib und Blut Christi. Wie ist das zu deuten? Ich würde jetzt hier als Religionswissenschaftler gerne rangehen wollen.

Bauerochse: Mit einer knappen Antwort.

Grundmann: ...würde sagen, es ist eine ganz entscheidende Notwendigkeit, hier diese Dinge religiös zu verstehen. Was das heißt, müsste dann ausdefiniert werden.

Bauerochse: Gut, das werden wir dann in einer zweiten Gesprächsrunde machen.

[Musik]

Sprecher: Der Schatten des Dalai Lama", so heißt das Buch des Ehepaares Trimondi, in dem sie scharfe Kritik äußern am Dalai Lama, dem geistlichen und weltlichen Oberhaupt der Tibeter. Wer ist eigentlich der Dalai Lama?

Giseko von Lüpke fasst die wichtigsten Kritikpunkte zusammen: Der Dalai Lama, in seiner Heimat weltliches und religiöses Oberhaupt der Gelbmützen-Tradition im tibetischen Buddhismus, und damit in der Hierarchie der unterschiedlichen buddhistischen Schulen Oberhaupt ganz Tibets, wird hierzulande oftmals mit dem Titel "Gottkönig" beschrieben. Daraus klingt die Sehnsucht nach einer Synthese von weltlicher und spiritueller Macht, von Moral und Politik, von Weisheit und verantwortungsvollem Handeln. Gleichzeitig gilt der Dalai Lama als Opfer weltpolitischer Wirren und vertriebener Flüchtling kommunistischer Aggression. Ein Märchenkönig ohne Reich, der Mitleid und Solidarität verdient. Und dann kämpft er nicht nur wie David gegen Goliath vom Exil aus gegen einen übermächtigen Gegner, sondern tut dies wie der legendäre Mahatma Gandhi mit friedlichen Mitteln: Meditation, Liebe, Mitgefühl. Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an den Dalai Lama vor zehn Jahren wurde das Oberhaupt der tibetischen Exilregierung vom Westen endgültig geadelt. Victor und Victoria Trimondi, ehemalige Verehrer Seiner Heiligkeit, haben sich in ihrem Buch mit den vermeintlichen Schattenseiten dieser Lichtgestalt auseinandergesetzt. Sie erinnern daran, dass der Dalai Lama nach wie vor tief im magischen Denken verwurzelt ist und auch seine politischen Entscheidungen mit Hilfe eines Mediums fällt, das den Kontakt zu einem mongolischen Kriegsgott herstellt. Sie verweisen darauf, dass es sich bei der verehrten Schutzgöttin des Dalai Lama um eine kindermordende Schreckensgestalt handelt. Sie erinnern an die sexualmagischen tantrischen Rituale der vornehmen patriarchalen Mönchskultur in Tibet und verweisen darauf, dass der Dalai Lama als religiöses Oberhaupt der höchste Repräsentant frauenfeindlicher Riten sei. Sie analysieren zudem die hierarchische Struktur des theokratischen Mönchsystems, das seine politische Legitimation sich nicht aus freien Wahlen, sondern aus der Inkarnation erleuchteter Mönche bezieht, und sehen den Dalai Lama als Oberhaupt eines mittelalterlichen, straff organisierten Mönchstaates. Ihr zentraler Vorwurf lautet: Der Dalai Lama vermittelt im Westen nur aus Gründen der Public Relation ein liberales, friedliebendes und aufgeklärtes Bild, das der Wirklichkeit in Tibet nicht entspricht. Das Verbot der erzkonservativen Shugden-Sekte durch den Dalai Lama sehen die Autoren als Beweis seines mangelnden Demokratieverständnisses. Sie warnen davor, dass eine möglicherweise aggressive und undemokratische "Buddhokratie" zusammen mit dem postkommunistischen China sogar zu einer Gefährdung für den Weltfrieden werden könnte.

[Fortsetzung des Gesprächs]

Bauerochse: Herr Grundmann, in unserer ersten Gesprächsrunde eben waren wir bei der Frage stehen geblieben, ob eigentlich die Mythen heute noch so eine Gefahr entwickeln können. Der Dalai Lama als Vertreter dieser Mythenwelt. Ich möchte die Frage nochmals aufgreifen: Können diese Mythen gefährlich werden, heute?

Grundmann: Also, sie können aktualisiert werden. Sie können heutzutage, und das hat etwas mit der Kommunikationswirklichkeit und mit der Kommunikationsgesellschaft zu tun, die Dinge, die ehedem eher für sehr geschlossene Kreise galten, [kann man] jetzt in die breite Öffentlichkeit ziehen und jetzt auch damit entstellen, in andere Zusammenhänge stellen. Das eröffnet wieder neue Interpretationsmöglichkeiten. Sie können, ich würde nicht sagen, gefährlich werden, sie können aber aktualisiert werden, sie werden für neue Interpretationen offen. Ich würde da ganz gerne mit Trimondis ins Gespräch kommen wollen. Den Aspekt der Gefährlichkeit der Mythen gerne noch einmal hinterfragen: Also, was macht Gefährlichkeit eigentlich aus?

Bauerochse: Machen wir es doch fest an der Figur des Dalai Lama: Er wird als ein Friedensmensch empfunden und Sie sagen, das ist alles nur Maske, Frau Trimondi?

Victoria Trimondi: Ja, wir dürfen nicht vergessen, dass der Dalai Lama gleichzeitig Staatsoberhaupt und religiöses Oberhaupt ist. Er exekutiert zwei Positionen, die ansonsten, wenn wir uns auf demokratische Prinzipien berufen würden, völlig voneinander getrennt sind. Das hat sich auch seit der Vertreibung des tibetischen Volkes durch die Chinesen nicht verändert und insofern ist die Persönlichkeit des Dalai Lama auch sehr vielschichtig und nicht einseitig zu betrachten. Sie ist auch nicht zu verteufeln, sondern wirklich mit den verschiedensten Perspektiven zu durchleuchten, auch aus dem eigenen kulturellen Verständnis seiner Tradition. Nach außen hin - und das ist auch selbstverständlich zu unterscheiden, der gesamte Friedensaspekt, den der Dalai Lama offiziell vertritt, ist eine äußerst wichtige und sehr ernst zu nehmende Angelegenheit, auch für den Westen. Im Hintergrund aber steht natürlich der Widerspruch, der mit seiner Persönlichkeit oder mit seiner Kultur etwas zu tun hat. Und wir dürfen nicht vergessen, wir haben es hier gleichzeitig mit einem Menschen und mit einer lebendigen Gottheit auf Erden zu tun! Wenn wir es vergleichen mit dem Papst: Der Papst ist der Stellvertreter Christi auf Erden. Der Dalai Lama ist eine emanierte und inkarnierte Gottheit zugleich. Also, wenn Sie so wollen, "übersetzt" haben wir es mit dem wandelnden Christus auf Erden zu tun! Dementsprechend sind die Widersprüche auf der metaphysischen Ebene, die in seiner Kultur mit den Aggressionspotentialen vorhanden sind, und die nicht im Ritualwesen des Tantrismus verändert worden sind, die weiterhin im Ritualwesen vorhanden sind und praktiziert werden. Sie stehen in einem Widerspruch zu ihm als Friedensfürst und Politiker oder auch als Demokrat.

Weiterhin ein kurzer Einblick: z.B. als Demokrat lässt er sich beraten von einem Staatsorakel! Das Interessante ist, dass dieses Staatsorakel in ein menschliches Medium hineintritt, es besetzt, und dass diese Gottheit, die dahinter steht, gleichzeitig eine Kriegsgottheit ist. Ein anderer, sehr seltsamer Hinweis ist.

Bauerochse: Darf ich mal kurz unterbrechen? Weil, ich finde, Sie machen es dem Dalai Lama schwer. Sie sagen, alles, was er sozusagen an friedlichen Positionen vertritt, das ist eigentlich nur Maske, ist PR-Gag, und er kommt von einem kriegerischen Hintergrund.

Victor Trimondi: Der kriegerische Hintergrund wird in der Öffentlichkeit nicht diskutiert, das ist das große Problem! Sie haben ja auch vorher einmal gefragt, ob er ein "Trojanisches Pferd" ist. Natürlich ist ein Trojanisches Pferd ein schönes Geschenk, was man zuerst mal [schön findet], das die Trojaner von den Griechen übernommen haben und sie haben geglaubt, dass es ihnen viel Glück bringt und für sie ein sehr positives Element enthält. Aber dahinter verbarg sich ein "okkulter" [verborgener] Raum. Man kann es so nennen, denn der Innenraum des Pferdes bestand eben aus den Griechen, die nachher das System übernahmen [bzw. Zerstörten]. Das [der "okkulte Raum"] sind die Geheimnisse der Tantras, also das, was wir im Grunde in unserem Buch darstellen: Die Keller - das muss an die öffentliche Diskussion. Genauso wie die tibetische Geschichte, die keine Geschichte der Friedfertigkeit gewesen ist, so wie der SPIEGEL sagt: Zweitausendfünfhundert Jahre buddhistische Friedfertigkeit, ohne Krieg, ohne Inquisition, ohne Leichen im Keller. Das stimmt nicht! Dieses Bild wird hier verbreitet, darüber müssen wir sprechen! Wir werfen nicht einmal die Geschichte dem Dalai Lama vor. Wir werfen ihm aber eklatant vor, dass das [die Vergangenheit seiner Institution] nicht an die offene Diskussion kommt! Jede Religion hat sich heute - unserer Ansicht nach - auch ihrer Geschichte zu stellen. Wir können die Religionen ja nicht nur von ihren Dogmen her sehen, sondern auch die Wirkungen, die diese Dogmen im Lauf des historischen Prozesses hatten [müssen wir in Betracht ziehen]. Und das Aggressionspotential im tibetischen Buddhismus, in der tibetischen Geschichte, ist eminent. Umso erschreckender ist es, dass es nicht diskutiert wird. Ich will noch einmal kurz sagen: Der Shambhala-Mythos hat sich, man kann vielleicht auch sagen in einem Missbrauch, historisch ausgedrückt: In dieser Figur des [des japanischen Giftgasgurus] Asahara, weil sein ganzes [religiöses] System sich ganz wesentlich darauf beruft. Das [der Asahara Fall] allein bedeutet schon genügend Gefahr, um es zu diskutieren.

Bauerochse: Herr Grundmann, haben Sie Angst vor einem Dalai Lama als " Trojanisches Pferd"?

Grundmann: Nein, ich halte das für eine unpassende Charakterisierung. Ich kann das zwar verstehen, jetzt von der Intention Ihres Buches her. Aber ich denke, diese Aussage ist schon sehr dicht am Bereich der Diffamierung. Nun haben Sie ihre Erfahrungen. Ich kann jetzt über ihre Erfahrungen nicht urteilen, das möchte ich auch nicht. Aber ich möchte doch dazu aufrufen, da erst einmal zu differenzieren: Dalai Lama als Funktion, als Institution und Person. Das würde ich jetzt erst einmal differenzieren wollen. Also, der vierzehnte Dalai Lama als Person, dann die Institution des Dalai Lama. Sie erwähnten in ihrer Darstellung, denke ich, völlig zutreffend: Er ist als ein Gottwesen, eine lebendige Gottheit. Aber das tibetische Gottheitenverständnis ist ein ganz anderes als unser Gottheitenverständnis. Das müsste man erst einmal differenzieren. Man müsste hier also sehr grundsätzlich arbeiten. Was heißt, ein lebender Gott zu sein? Ich denke, (das zeigt auch), ein bisschen kommt (auch) diese Verlegenheit in dem Film "Kundun" (dann) raus, (also), wo man sagt: (also) Das soll nun ein Gott sein, dieses Kind? Das andere ist. Ihre Bemerkung find` ich auch richtig, jede Religion hat sich ihrer Geschichte zu stellen. Aber wenn Sie jetzt vom buddhistischen Hintergrund herkommen, wo die Geschichte irrelevant ist, setzt das ja erst mal ein wachsendes Geschichtsverständnis voraus, was da sein muss, was so gar nicht da ist. Und das hat jetzt der tibetische Buddhismus zu gewinnen. Ich finde, der Dalai Lama macht das in einer großartigen Weise: Wie er diesen Kulturbruch, den er erlebt, von einer kleinen berglandwirtschaftlichen Mönchsrepublik aus, (jetzt) in die weite Weltpolitik gestellt zu sein. Wie er diese Kulturbrüche erträgt, (jetzt) als Person, muss ich erst mal sagen, ist erstaunlich und zeigt ihn eigentlich für mich als einen großen, beachtenswerten Mann. Obwohl die Sachfrage, die Sie ansprechen, dass man diese Dinge, aus welcher Tradition er kommt, dass die natürlich hier diskutiert werden müssen und dass dies in der Vergangenheit bisher nicht geschehen ist. Dass Ihr Buch da zumindest erst mal einen Anstoß gibt. Das tut gut und ist notwendig und ist eine Hilfe. Aber jetzt diese Frage, wie es dann diskutiert wird.

Exkurs: Die Rolle der Frauen im tibetischen Buddhismus am Beispiel von June Campbell

Die schottische Religionswissenschaftlerin war Ende der sechziger Jahre als junge Frau Anhängerin des tibetischen Buddhismus. Sie war Schülerin von Kalu Rinpoche, ein weltweit berühmter tibetischer Lama, ein religiöser Lehrer also. Mit ihm reiste sie als Übersetzerin durch die ganze Welt, doch nicht nur das: Sie war auch seine sexuelle Gefährtin. Die Beziehung musste geheim gehalten werden, um das Ansehen des Meisters als zölibatären Mönch nicht zu gefährden. Katja Sindemann hat mit June Campbell gesprochen.

Sindemann: Eigentlich lehrt der Buddhismus die Überwindung der sexuellen Begierde, um völlig innere Freiheit von weltlichen Dingen zu erlangen. Doch der tibetische Buddhismus hat unter dem Einfluss des nordindischen Tantrismus eine Meditationspraxis entwickelt, mit der der Meister mit Hilfe einer Frau zur Erleuchtung findet: Zuerst stellt der Übende sich die Frau nur bildlich vor, in einer höheren Stufe kann er sich auch einer realen Frau bedienen. Sie wird Dakini oder Song-yum genannt.

Campbell: Er war einer der höchsten Lamas in der tibetischen Gesellschaft, er war Lehrer des Dalai Lama. Ich dachte, dass es in gewisser Weise gut für mich wäre, eine Verbindung mit einem solchen Mann einzugehen. Und obwohl das Verhältnis völlig geheim gehalten wurde, abgesehen von ein bis zwei Eingeweihten, glaubte ich immer noch, dass es mir spirituell nützen würde! Ich kann nicht mehr sagen, als dass ich zu jener Zeit glaubte, jede Art von Segen oder enger Verbindung mit jemandem, den ich als spirituell hochstehende Person ansah, wäre gut für mich.

Sindemann: Nach einigen Jahren beendete June das geheime Verhältnis. Sie trennte sich von Kalu Rinpoche und schwieg weiterhin. Erst Jahrzehnte später spricht sie darüber.

Campbell: Als erstes fand ich inakzeptabel ein Doppelleben zu führen. Hinzu kam, dass ich von anderen Westlern völlig abgeschnitten war. Ich war nicht mehr ich selbst. Ich konnte mit anderen Westlern über das, was ich erlebt hatte, nicht sprechen. Ich bin Schottin und in einer sehr demokratischen Gesellschaft aufgewachsen, wo Ehrlichkeit eine der wichtigsten Eigenschaften ist. Deshalb war ich nach einiger Zeit nicht mehr imstande, diese Beziehung zu leben.

Sindemann: In ihrem Buch: " Göttinnen, Dakinis und ganz normale Frauen. Weibliche Identität im tibetischen Tantra" versuchte sie ihre persönliche schmerzvolle Erfahrung wissenschaftlich aufzuarbeiten. Dabei kritisierte sie das gesamte System des tibetischen Buddhismus als frauenfeindlich.

Campbell: Wie alle mittelalterlichen Kulturen schloss die tibetische Gesellschaft Frauen von Machtpositionen aus. Es war eine Theokratie: Die Lamas hatten sowohl die spirituelle als auch die politische Macht inne. Sie waren wichtige Figuren in der lokalen, aber auch in der gesamten tibetischen Gesellschaft. Frauen wurden von Führungsämtern der buddhistischen Schulen ausgeschlossen, die die Lehren weitergaben. Frauen wurden nur unter bestimmten Bedingungen einbezogen. So z.B. die Mütter von Tulkus, den wiedergeborenen Lamas: Sie gaben ihre kleinen Jungen in die Klöster und opferten sie zum Wohle der gesamten Gesellschaft.

Sindemann: June Campbell kritisiert vor allem die Geheimhaltung, der die Frauen unterliegen. Sie sollen zwar ihren Beitrag zum religiösen System leisten, aber nur im Verborgenen. Sie sieht in diesen Strukturen auch eine große Gefahr.

Campbell: Alle Beispiele, die ich erlebt habe, und wie man aus den Schriften ersehen kann, zeigen, dass es keine Gleichheit zwischen Mann und Frau gibt. Aber das ist nicht der wesentliche Punkt. Denn das passiert nicht nur in der tibetischen Gesellschaft, sondern überall. Ich denke, der springende Punkt ist die Verehrung für den Lama, die nicht hinterfragte Hingabe, die in einem geheimen und geschlossenen System von Gedanken stattfindet. Die Figuren, die die spirituelle Macht innehaben, nehmen außerdem politische Ämter in dieser Gesellschaft ein. Aber es entsteht meiner Meinung nach eine sehr gefährliche Situation, wenn man diese Strukturen in den Westen bringt. Es bilden sich Gruppen, die Dinge geheim halten. Männer kommen in sehr machtvolle Positionen und können sexuelle Beziehungen zu mehreren Frauen unterhalten, unter dem Vorwand, dass es eine spirituelle Angelegenheit wäre. Die Umgebung ist außerstande, diese Dinge zu hinterfragen. Das birgt eine Menge Risiken

Sindemann: Aufgrund ihrer Erfahrungen hat sich June Campbell schon vor Jahren vom tibetischen Buddhismus verabschiedet. Doch die Vergangenheit holt sie heute wieder ein. Bei Erscheinen ihres Buches wurde sie von vielen Seiten beschimpft, auch von westlichen Anhängern des tibetischen Buddhismus!

[Musik]

(Anschl. Fortsetzung der Gesprächsrunde Bauerochse/Trimondi/Grundmann)

Bauerochse: Der Buddhismus ist beliebt im Westen, auch Hollywood hat sich seiner angenommen. Die westliche Buddhismus-Euphorie, ist das eine einseitige Begeisterung für einen Buddhismus "light", ohne die Schattenseiten der Religion?

Zu Beginn unserer dritten Gesprächsrunde noch einmal die wichtigsten Kritikpunkte des Trimondi-Buches: Das Bild, das man sich im Westen von Tibet macht, hatte schon immer eine besondere Aura: Kenner der Materie berichten, dass seit dem sechzehnten Jahrhundert das Land auf dem Dach der Welt entweder überzogen positiv verherrlicht, oder überzogen negativ verteufelt wurde. Die Wirklichkeit in Tibet und das was der Westen davon zu wissen glaubt, sind also offenbar zwei paar Schuhe. Diese weitgehend unkritische Rezeption des tibetischen Buddhismus aufzuzeigen, ist das eigentliche Motiv des Buches. Die Autoren verweisen darauf, das in Nordamerika sich mittlerweile 1,5 Millionen Menschen zum tibetischen Buddhismus bekennen. In Deutschland sollen es rund eine halbe Million sein, die im Dalai Lama ihr religiöses Vorbild sehen. Victor und Victoria Trimondi, alias Herbert und Mariana Röttgen, bezweifeln, dass die große Zahl dieser Sympathisanten weiß, auf welche Mythen, Rituale, Traditionen, Welt- und Menschenbilder sie sich einlassen, wenn sie sich zum tibetischen Buddhismus bekennen. In ihrem Buch warnt das Autorenpaar deshalb davor, die notwendige politische Solidarität mit einem besetzten Land, einer bedrohten Kultur und einer unterdrückten Bevölkerung nicht voreilig mit einer oberflächlichen Begeisterung für den tibetischen Buddhismus zu vermischen. Tibets Exilregierung werfen sie vor, den Mitleidsbonus auszunutzen und westliche Menschenrechtler vor einen religiös-missionarischen Karren zu spannen. Mehr noch, sie werfen dem Dalai Lama vor, mit Geschick die Bedürfnisse eines zunehmend wertelosen Westens nach Spiritualität, ökologischer Verantwortung, ganzheitlicher Wissenschaft und aufrichtiger politischer Moral geschickt aufzunehmen und den tibetischen Buddhismus als eine zeitlose Antwort auf alle Fragen der Moderne zu verkaufen.

Herr Trimondi, Sie haben in ihrem Buch scharfe Kritik geäußert am Dalai Lama. Für viele, dass kann man, glaube ich, auch offen sagen, ist das Maß seriöser Kritik damit bei weitem überzogen. Meine Frage: Was wollen Sie eigentlich erreichen mit Ihrem Buch?"

Victor Trimondi: Das Erste, was wir erreichen wollen, ist eine offene Diskussion über all‘ die Themen, die wir angeschnitten haben. Das ist ja nun in diesem Fall ganz besonders dringend, weil wir [hier im Westen] ein Buddhismusbild haben, das keine Schattenseiten mehr zulässt. Zum Beispiel - der Religionswissenschaftler Michael v. Brück weist, nachdem unser Buch erschienen ist, immer wieder darauf hin, dass diese Kritik [am tibetischen Buddhismus] jetzt auch überfällig wäre und bezeichnet z.B. die Hollywood-Präsentation der Filme "Kundun" und "Sieben Jahre Tibet" als Kitsch. Er kontrapunktiert dies [den süßlichen Kitsch] mit unserem Buch, was nur über die "schwarzen Seiten" berichtet, die hier [im Film] kitschartig zum Tragen kommen. Ich darf aber daran erinnern, dass bei der Erstellung des Drehbuchs von "Kundun" der Dalai Lama intensivst mitgearbeitet hat und dass auch bei beiden Filmen Familienmitglieder des Dalai Lama unter den beteiligten Schauspielern gewesen sind. Das heißt, Dharamsala und der Dalai Lama selber fördern dieses falsche [Tibet]bild auf der gesamten Ebene. Das ist unser Problem. Unser Buch wirkt deswegen nur so überzogen, weil es keine Diskussion, zumindest keine breite öffentliche, über die Schattenseiten [des tibetischen Buddhismus] gibt. Es wird demnächst ein Buch erscheinen, was bei weitem "überzogener" ist als unseres. Dann wird man sich damit vertraut machen und uns diese Vorwürfe nicht mehr machen können.

Bauerochse: Darauf wollte ich gerade eingehen: Es gibt das Gerücht, dass Jutta Ditfurth und der Münchner Psychoanalytiker Colin Goldner ein Buch veröffentlichen wollen. Colin Goldner hat kürzlich in einem Interview gesagt: Den Buddhismus kann man nicht reformieren, man muss ihn abschaffen. Ist das eine Forderung, die sie unterschreiben wollen?

Victor Trimondi: Nein, in der Form überhaupt nicht! Erstens, unser Buch behandelt zwar auch den Buddhismus von seinem Ursprung her unter dem Aspekt der Geschlechterthematik. Worüber wir ausschließlich zu diskutieren haben ist, ob der Lamaismus abgeschafft werden müsste oder ob er reformierbar ist. Tatsächlich sind wir der Meinung, dass der Lamaismus in seiner traditionellen Struktur nicht reformierbar ist. Er beruht auf einem Emanations- und Inkarnationssystem. Wenn man dieses System ernst nimmt, besteht seit sechshundert Jahren dieselbe Herrschaftsschicht! Es gibt auch Andeutungen, die so etwas ernst nehmen lassen, zumindest, wenn man die Initiationsverfahren ernst nimmt. Ich glaube jedoch, dass aus dem westlichen Buddhismus, das heißt Leute, die durch die Sphären der tantrischen Initiation gegangen sind (das sind ja mittlerweile viele Zehntausende) dass sie in der Lage sein könnten, auch mit ihrer westlichen Kultur etwas zu entwickeln, was einer Reform [des Buddhismus] gleich käme.

Bauerochse: Herr Grundmann, Sie sind Religionswissenschaftler. Ich vermute mal, wenn von der Abschaffung einer Jahrtausende alten Religion die Rede ist, dann stehen Ihnen die Haare zu Berge, ist das so?

Victoria Trimondi: ...nur die Abschaffung des lamaistischen Systems!"

Grundmann: Wer entscheidet dann darüber, ob eine Religion zu bestehen hat, oder weiter bestehen kann oder eben nicht mehr (weiter bestehen kann).

Bauerochse: Aber umgekehrt: Halten Sie die Reformansätze für durchführbar, oder halten Sie Reformen (überhaupt) für notwendig?

Grundmann: Ich halte die Fragestellung für unangemessen. Ich denke, erst mal ist es ernst zu nehmen, was die, die diese Religion leben, und wenn sie authentisch gelebt wird (Wir brauchen nicht von den Perversionen zu reden). Ich finde, auch da muss differenziert werden. Nicht nur die Filme, sondern auch in dem, was man selbst erlebt hat. Das ist ja auch das Problem des eigenen Erlebens. Hier muss differenziert werden zwischen dem, wie sich die Religion selbst versteht, im Selbstverständnis. Das ist das eine und das andere (jetzt) in den Perversionen, die da sind. [Unverständliche Passage] Das aber das Gleiche mit Hingabe gelebt wird, mit gleicher fragloser Hingabe. Da ist etwas gewiss, das macht ja Religion wesentlich aus. Deswegen - ein interreligiöses, interkulturelles Gespräch mit dem tibetischen Buddhismus, (das muss man deutlich sagen), ist eine derart intellektuelle und kulturhistorische Herausforderung höchsten Maßes, die soviel Sensibilität verlangt, dass wir sagen müssen: Verstehen wir denn eigentlich das, was darüber ist? Dass es hier angebracht ist, zu sagen: Bitte, jetzt nehmt doch wahr, hier wird mit Ernsthaftigkeit und Hingabe gelebt! So verstehe ich auch den Dalai Lama und das, was ich von ihm sehe. Dass der Dalai Lama jetzt in die Situation kommt, mit einem Buddhismusbild des Westens konfrontiert zu werden, (dass) hängt ja auch mit einer kulturgeschichtlichen Begegnung Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen, nach eben der Vertreibung (jetzt) aus Tibet. Ende der fünfziger Jahre sieht er sich plötzlich in einen weltpolitischen Zusammenhang gestellt, was natürlich sein Anliegen auch verändert und er ganz anders sich artikulieren muss, als er es eigentlich von seiner Herkunft gewohnt ist. Das macht es hier noch um ein Weiteres schwieriger angemessen (das) zu verstehen: Was ist denn hier eigentlich die Botschaft...

Bauerochse: Aber wie würden Sie z.B. als Religionswissenschaftler mit einem Vertreter des tibetischen Buddhismus reden, wenn Sie auch kritische Anmerkungen im Hinblick auch auf die Mythen, auf gewalttätige Bilder machen, oder würden Sie dies nicht machen?

Grundmann: Kritische Anmerkungen im Sinne von Fragen. Ich würde erst mal sagen: Verstehe ich das richtig? Es sind ja auch immer Existenzentwürfe die dahinterstehen. Ich bin nicht xenophil, also fremdenfreundlich. Also, gerade weil es tibetisch ist, ist es von daher auch eo ipso gut. (Also) da würde ich (jetzt) sagen: Nein, da würde ich für einen kritischen Dialog der Religionen plädieren (und) das bedeutet zunächst einmal sachgemäß zur Kenntnis nehmen: Was ist da. Wir haben in der Religionswissenschaft von der Religionsphänomenologie her die klare Vorgabe der Tugend der Epoche. Das heißt, einhalten, (erst einmal) das Fremde erst einmal als fremd wahrnehmen. Sagen: Ich verstehe es nicht, aber einhalten und fragen: Was ist da eigentlich und von da dann weitergehen. Also, Kritik in dem Sinne des Dialogs oder des gemeinsamen Gesprächs:

Bauerochse (Frage an Trimondi): Sie haben hier Vorwürfe erhoben, heißt das, dass für sie solch‘ ein kritisches, ein fragendes, ein verstehendes Gespräch nicht mehr möglich ist?

Victor Trimondi: Die tibetische Kultur in dem Sinne, wie wir sie als Initiationsweg verstehen, ist schon Teil unserer Kultur geworden. Da ist nämlich ein ganz großes Missverständnis: Es gibt Zehntausende westliche Anhänger dieser Kultur. Die können sie überall treffen und die reden auch schlichtweg frei über ihre Erlebnisse, über ihre Erfahrungen. Das sind jetzt zumindest zwanzig Jahre, in denen diese Kultur einen unglaublichen Zulauf gewonnen hat. Wir können gar nicht mehr davon reden, dass hier nur ein Bergvolk aus dem Himalaja wäre, mit dem wir uns auseinander zusetzen haben!

Bauerochse: Wobei die ja vielleicht gerade, die im Westen lebenden, einen Buddhismus "Light" leben, die gar nicht aus diesen dunklen Mythen geprägt sind.

Victor Trimondi: Das ist nicht wahr! Das haben sie ja eben am Beispiel von June Campbell gesehen, dass sie sehr wohl mit diesen tiefen Dingen konfrontiert sind. Wir haben selber nach der Veröffentlichung unseres Buches eine ganze Menge Material an Leserbriefen erhalten, die zeigen, wie tief auch die magische Suggestionskraft dieses Systems ist!

Bauerochse: Ich danke Ihnen allen für dieses Gespräch.


 

 

 

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